Sword Art Online: Progressive/Volume 1/Arie einer sternenlosen Nacht/Kapitel 1

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Kapitel 1

NUR EINMAL HABE ICH EINE ECHTE STERNSCHNUPPE GESEHEN.

Es war nicht während eines Campingausflugs unter freiem Himmel, sondern von meinem Schlafzimmerfenster aus. Das kommt jenen, die an Orten mit klarem Himmel leben, oder wo es nachts wirklich dunkel wird, vielleicht nicht besonders vor, aber mein vier-zehnjähriges Zuhause, Kawagoe in der Präfektur Saitama, war nichts der beiden. Selbst in einer wolkenlosen Nacht konnte man nur die hellsten aller Sterne mit dem bloßen Augen sehen.

Aber eines Mittwinternachts passierte es, dass mein Blick auf das Fenster streifte und ich einen Moment lang ebenjenes brillantes Naturschauspiel erblickte, das vertikal durch den sternenlosen, vom Licht der Stadt erhellten Sternenhimmel blitzte. Zu der Zeit war ich in der vierten oder fünften Klasse, und unschuldig jung wie ich war, beschloss ich mir etwas zu wünschen…nur um es für die unnötigste Sache zu verschwenden, die man sich vorstellen kann: „Ich wünschte, das nächste Monster würde ein seltenes Item droppen.“ Damals grindete ich gerade für ein Level-Up in meinem Lieblings-MMORPG.

Ich sah eine weitere Sternschnuppe derselben Farbe und Schnelligkeit drei (oder vielleicht vier) Jahre später.

Aber diesmal nicht mit bloßem Auge, und sie blitze auch nicht durch den grauen Nachthimmel. Es geschah in den düsteren Tiefen eines Dungeons, erschaffen vom NerveGear – dem weltweit ersten voll sensorischen, immersiven VR-Interface.


Die Art und Weise, wie der Fechter kämpfte, konnte man nur als „besessen“ beschreiben.

Er flitzte so knapp an dem Beil des Level-6 Goblin Troopers vorbei, dass es mir kalt den Rücken runter lief. Nach drei erfolgreichen Ausweichmanövern verlor der Kobold endgültig die Balance, und der Fechter lies einen vollaufgeladenen Sword-Skill auf das hilflose Biest los.

Er benutze Linear, einen simplen Hieb, welcher der erste An-griff war, den man in der Kategorie Rapier lernte. Es war ein sehr gewöhnlicher Angriff, ein gradliniger Stoß aus zentraler Position, seine Schnelligkeit jedoch war erstaunlich. Es war eindeutig nicht nur das spielinterne Motion-Assistance-System, das hier arbeitete, sondern vielmehr sein eigenes athletisches Können.

Ich hatte während des Betatests unzählige Male gesehen, wie Party-Mitglieder und gegnerische Monster denselben Skill einsetzten, aber alles, was ich dieses Mal erkennen konnte, war der visuelle Effekt der Schwertbahn, und nicht die Klinge selbst. Das plötzliche Aufblitzen puren Lichts inmitten des düsteren Dungeons erinnerte mich an jene Sternschnuppe.

Nach drei Wiederholungen des Musters, Kombo des Kobolds ausweichen und mit Linear antworten, hatte der Fechter die bewaffnete Kreatur – eine der Stärksten in diesem Dungeon – besiegt, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Aber es war kein müheloser, einfacher Kampf. Als der letzte Hieb durch die Brust des Kobolds stach und ihn in leere Polygonscherben zerbersten ließ, stolperte er zurück und prallte gegen die Wand, als hätte das Zerbersten der Kreatur ihn weggedrängt. Der Mann rutschte die Wand hinunter, bis er schwer atmend auf dem Boden saß.

Er hatte mich nicht wahrgenommen, wie ich etwa fünfzehn Meter entfernt an einer Tunnelkreuzung stand.

Normalerweise wäre ich an dieser Stelle leise weggehuscht, und hätte mir meine eigene Beute zum Jagen gesucht. Seit ich vor einem Monat den Entschluss gefasst hatte, als eigennütziger Solospieler vorzugehen, habe ich mich nie besonders angestrengt auf andere Personen zuzugehen. Die einzige Ausnahme wäre, wenn jemand kämpfen und in Lebensgefahr schweben würde; der Fechter war aber kein einziges Mal unter Full-Health gefallen. Zumindest sah er nicht so aus, als hätte er es nötig, dass jemand sich einmischte und Hilfe anbot.

Und dennoch…

Ich zögerte fünf Sekunden lang, dann entschied ich mich, in die Richtung des sitzenden Spielers zu schlendern.

Er war dünn und kleinlich, trug eine leichte bronzene Brust-platte über einer tiefroten Tunika, eng anliegende Lederhosen und kniehohe Stiefel. Sein Gesicht lag versteckt unter einem Kapuzenumhang, der vom Kopf bis zur Taille ging. Abgesehen von dem Umhang war alles eine übliche leichte Rüstung eines flinken Fechters, ähnlich zu meiner Schwertkämpfer-Kleidung. Mein geliebtes Anneal Blade, die Belohnung einer hochrangigen Quest, war so schwer, dass ich auf sperriges Equipment verzichten musste, damit meine Bewegungen schnell blieben – ich trug nichts Schwereres als einen dunkelgrauen Ledermantel und ein kleines Bruststück.

Der Fechter zuckte zusammen, als er meine Schritte hörte, bewegte sich aber nicht weg. Er sollte meinen grünen Cursor gesehen haben, um sich zu vergewissern, dass ich kein Monster bin. Sein Kopf blieb zwischen den hochgezogenen Beinen hängen, ein klares Signal, dass er wollte, dass ich weiterging, aber ein paar Schritte entfernt hielt ich inne.

„Ein bisschen Overkill, wenn du mich fragst.“

Unter dem Umhang zuckten die zierlichen Schultern abermals. Die Kapuze rutschte ein oder zwei Zentimeter zurück, und ich sah zwei scharfe, funkelnde Augen auf mich gerichtet. Alles, was ich sehen konnte, war deren hellbraune Iris; die Konturen des Gesichts immer noch im Schatten.

Nach mehreren Sekunden eines durchdringenden, den Rapier-Hieben ebenbürtigen Blickes, neigte er den Kopf leicht nach links, anscheinend, um zu sagen, dass er mich nicht verstand.

Innerlich seufzte ich resigniert auf. Aber irgendetwas im Hinterkopf hielt mich davon ab, einfach meinen einsamen Weg weiter-zugehen.

Der Linear des Fechters war erschreckend perfekt. Nicht nur die Vor- und Nachbewegungen waren extrem kurz, auch der Angriff selbst war schneller, als man sehen konnte. Nie zuvor hatte ich einen so angsteinflößenden und wunderschönen Sword-Skill erlebt.

Zuerst nahm ich an, dass er ein weiterer ehemaliger Betatester war. Diese Schnelligkeit musste von Erfahrung aus der Zeit stammen, bevor diese Welt in seine jetzige tödliche Form gestürzt wurde.

Als ich den Linear aber ein zweites Mal sah, begann ich an dieser Annahme zu zweifeln. Im Gegensatz zu der Perfektion seiner Attacken, war der Kampfrhythmus des Fechters geradezu lebens-müde. Ja, die defensive Strategie, den gegnerischen Schlägen mit geringster Bewegung auszuweichen, führte zu schnelleren Gegen-angriffen als zu blocken oder zu parieren, und nutzte zudem das Equipment weniger stark ab. Aber die Konsequenzen eines Fehlers wiegten viel schwerer auf als alle positiven Aspekte. Im schlimmsten Fall könnte ein Treffer des Gegners als ein erfolgreicher Konter gewertet werden, was einen kurzen Stun auslöste. Für einen Einzelkämpfer war gestunt zu werden wie ein Todesurteil.

Es passte einfach nicht zusammen – brillante Schwertkunst, kombiniert mit schier leichtsinniger Strategie. Ich wollte wissen warum, deswegen ging ich auf ihn zu und fragte, ob es nicht Overkill sei.

Jedoch verstand er nicht einmal diese in Spielen sehr geläufige Bezeichnung. Der Fechter, der hier auf dem Boden saß, konnte kein Betatester sein. Er mochte vielleicht nicht einmal ein MMO-Spieler gewesen sein, bevor er in dieses Game kam.

Ich holte kurz Luft und begann mit einer Erklärung.

„Overkill ist eine Bezeichnung, die man benutzt, wenn man viel zu viel Schaden austeilt für die Menge an Leben, die das Monster noch hat. Nach deinem zweiten Linear war dieser Kobold fast tot. Er hatte nur noch zwei, drei Pixel des HP-Balkens übrig. Du hättest ihn einfach mit einer leichten Attacke niederstrecken können, anstatt einen ganzen Sword-Skill zu benutzen.“

Wie lange war es her gewesen, dass ich so viele Wörter am Stück gesagt hatte? Tage? Wochen? Dafür, dass in der Schule Japanisch nicht mein bestes Fach war, waren meine Ausführungen elegant wie ein Essay. Der Fechter aber, zeigte ganze zehn Sekunden lang keine Reaktion. Endlich murmelte eine sanfte Stimme aus den Tiefen des Umhangs.

„Gibt es ein Problem damit, zu viel Schaden zu machen?“

Endlich, letztendlich, hatte ich realisiert, dass der hockende Fechter eine der seltensten Begegnungen in dieser Welt war, nicht zu reden von den Tiefen eines Dungeons– kein männlicher Spieler, sondern eine Frau.


Das weltweit erste VRMMORPG, Sword Art Online, hatte seine virtuellen Pforten fast einen Monat zuvor geöffnet.

In einem klassischen MMO würden die Spieler mittlerweile das Höchstlevel erreichen und die Weltkarte wäre ausführlich von vorne bis hinten erkundet. Hier in SAO jedoch, waren selbst die besten Spieler gerade mal um Level 10 – und keiner wusste, was die Ober-grenze war. Kaum mehr als ein paar Prozent des Spielsettings, der schwebenden Burg Aincrad, wurden bisher kartographiert.

SAO war nicht mehr wirklich ein Spiel. Es war eher wie ein Gefängnis. Ausloggen war unmöglich, und der Tod des Avatars des Spielers war gleichbedeutend mit dem Tod des Körpers des Spielers, Punkt. Unter solchen Umständen wagten es nur wenige, sich den Gefahren der Monster und Fallen eines Dungeons auszusetzen.

Obendrein hatte der Gamemaster die Avatare der Spieler in ihr Geschlecht aus dem echten Leben gezwungen, was bedeutete, dass es einen massiven Mangel an weiblichen Spielern gab. Ich vermutete, dass die meisten von ihnen immer noch im sicheren Bereich der Stadt der Anfänge verblieben. In diesem massiven Dungeon – dem Labyrinth der 1. Ebene – hatte ich bisher nur zwei oder drei Male eine Frau gesehen, und diese waren immer in großen Abenteuer-Parties unterwegs.

Deshalb ist es mir nie in den Sinn gekommen, dass der einsame Fechter am Rande des unerforschten Territoriums des Labyrinths wirklich eine Frau sein könnte.


Ich überlegte kurz, eine Entschuldigung zu murmeln und davonzueilen. Ich war nicht auf einem Kreuzzug gegen all die Männer, die es immer darauf anlegten, jede weibliche Spielerin, die sie sahen, ohne zu zögern anzusprechen, aber ich wollte definitiv nicht als einer von ihnen identifiziert werden.

Hätte sie mit „Kümmer‘ dich um deinen eigenen Kram!“ oder „Ich kann tun, was ich will“ geantwortet, hätte ich keine andere Wahl gehabt, als zuzustimmen und mich zu verziehen. Aber die Antwort der Fechterin schien eine ehrliche Frage zu sein, also hielt ich inne und versuchte, mir eine gute Erklärung einfallen zu lassen.

„Naja…eine Strafe fürs Overkilling gibt es nicht im Spiel – es ist einfach ineffizient. Sword-Skills brauchen eine Menge Konzentration, je mehr man sie also benutzt, desto erschöpfter wird man. Ich meine, du musst es ja immer noch nach Hause schaffen, oder? Du solltest versuchen, mehr Energie zu sparen.“

„…Nach Hause schaffen?“, fragte die Stimme aus der Kapuze erneut. Sie war rau, monoton, und allem Anschein nach erschöpft, aber irgendwie fand ich sie schön. Das sagte ich natürlich nicht laut. Stattdessen versuchte ich weiter auszuführen.

„Ja. Es wird eine gute Stunde dauern, um von hier aus dem Labyrinth herauszukommen. Und die nächste Siedlung ist auch noch mal dreißig Minuten entfernt, richtig? Man macht mehr Fehler, wenn man müde ist. Du siehst mir wie ein Solospieler aus; Fehler können ganz schnell tödlich enden.“

Während ich sprach, fragte ich mich, warum ich sie überhaupt so ernsthaft belehrte. Nicht weil sie ein Mädchen war, dachte ich. Ich hatte sie angesprochen, bevor ich ihr Geschlecht wusste.

Wenn die Rollen vertauscht wären und mir jemand hochmütig einen Vortrag darüber halten würde, was ich tun sollte, würde ich ihm sicherlich sagen, dass er zur Hölle fahren soll. Als ich merkte, wie widersprüchlich meine Handlungen zu meiner Persönlichkeit waren, reagierte die Fechterin endlich.

„Wenn das so ist, gibt es kein Problem. Ich werde nicht nach Hause gehen.“

„Hm? Du gehst nicht…zurück zur Stadt? Aber was ist mit schlafen, Tränke nachfüllen, Ausrüstung reparieren…?“, fragte ich ungläubig. Sie zuckte kurz mit den Schultern.

„Tränke brauch ich nicht, wenn ich kein Schaden nehme, und ich habe fünf von demselben Schwert gekauft. Wenn ich Schlaf brauche, bekomme ich den einfach bei der Sicheren Zone in der Nähe“, sagte sie mit heiserer Stimme. Ich hatte keine Antwort.

Die Sichere Zone war ein kleiner Raum innerhalb des Dungeons, in dem keine Monster spawnten. Er war leicht durch die farbigen Fackeln in jeder der Ecken des Raums zu erkennen. Diese Zonen waren nützlich als Lager beim Jagen oder Kartographieren im Dungeon, aber sie waren nicht für mehr als ein kurzes Nickerchen gedacht. Die Räume hatten keine Betten, nur harte Steinböden, und die weiten Eingänge taten nichts, um die unablässigen Geräusche der monströsen Schritte und des Röchelns abzuhalten. Auch die härtesten aller Abenteurer konnten unter solchen Umständen keinen ehrlichen Schlaf finden.

Aber wenn ich ihre Aussage für bare Münze nahm, dann benutzte sie diese enge Steinkammer als Ersatz für einen richtigen Raum in einem Wirtshaus, um permanent innerhalb des Dungeons zu lagern. Könnte das wirklich richtig sein?

„Ähm…wie viele Stunden bist du schon hier drin?“, fragte ich, ängstlich die Antwort zu erfahren.

Sie atmete langsam aus. „Drei Tage…vielleicht vier. Bist du fertig? Das nächste Monster wird bald spawnen, ich muss los.“

Sie lehnte mit einer fragilen, behandschuhten Hand gegen die Wand des Dungeons und kletterte wackelig auf die Beine. Das Rapier so schwer wie ein Zweihänder in der Hand hängend, drehte sie mir den Rücken zu.

Als sie losging, sah ich zerlumpte Risse in ihrem Umhang, was auf seinen dürftigen Zustand hinwies. Eigentlich war es ein Wunder, dass der zarte Stoff nach vier Tagen in einem Dungeon überhaupt noch intakt war. Vielleicht war ihre Aussage darüber, keinen Schaden zu nehmen, nicht einfach nur leere Prahlerei…

Nicht einmal ich selbst rechnete mit den Worten, die als nächstes meinen Mund in Richtung ihres kleiner werdenden Rückens verließen.

„Wenn du weiter so kämpfst, stirbst du.“

Sie blieb stehen und stützte sich mit der rechte Schulter an der Wand ab, bevor sie sich umdrehte. Die Augen, die ich unter dem Um-hang für haselnussbraun gehalten hatte, schienen nun in einem hellen, durchdringenden Rot aufzublitzen.

„…Wir werden sowieso alle sterben.“

Ihre heisere, krachende Stimme schien die Temperatur der Dungeonluft herunterzufahren.

„Zweitausend Menschen sind in einem einzigen Monat gestorben. Und wir haben nicht einmal die 1. Ebene geschafft. Es ist unmöglich dieses Spiel durchzuspielen. Der einzige Unterschied ist, wann und wo wir sterben, früher…oder später…“

Die längste und emotionalste Äußerung, die sie bisher getätigt hatte, verlies ihre Lippen und hing in der Luft.

Ich ging instinktiv einen Schritt nach vorne und sah, wie sie leise zu Boden sackte, als sei sie von einer unsichtbaren Lähmung getroffen.