Sword Art Online: Progressive/Volume 1/Arie einer sternenlosen Nacht

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Illustrationen[edit]

Arie einer sternenlosen Nacht[edit]

Kapitel 1[edit]

NUR EINMAL HABE ICH EINE ECHTE STERNSCHNUPPE GESEHEN.

Es war nicht während eines Campingausflugs unter freiem Himmel, sondern von meinem Schlafzimmerfenster aus. Das kommt jenen, die an Orten mit klarem Himmel leben, oder wo es nachts wirklich dunkel wird, vielleicht nicht besonders vor, aber mein vier-zehnjähriges Zuhause, Kawagoe in der Präfektur Saitama, war nichts der beiden. Selbst in einer wolkenlosen Nacht konnte man nur die hellsten aller Sterne mit dem bloßen Augen sehen.

Aber eines Mittwinternachts passierte es, dass mein Blick auf das Fenster streifte und ich einen Moment lang ebenjenes brillantes Naturschauspiel erblickte, das vertikal durch den sternenlosen, vom Licht der Stadt erhellten Sternenhimmel blitzte. Zu der Zeit war ich in der vierten oder fünften Klasse, und unschuldig jung wie ich war, beschloss ich mir etwas zu wünschen…nur um es für die unnötigste Sache zu verschwenden, die man sich vorstellen kann: „Ich wünschte, das nächste Monster würde ein seltenes Item droppen.“ Damals grindete ich gerade für ein Level-Up in meinem Lieblings-MMORPG.

Ich sah eine weitere Sternschnuppe derselben Farbe und Schnelligkeit drei (oder vielleicht vier) Jahre später.

Aber diesmal nicht mit bloßem Auge, und sie blitze auch nicht durch den grauen Nachthimmel. Es geschah in den düsteren Tiefen eines Dungeons, erschaffen vom NerveGear – dem weltweit ersten voll sensorischen, immersiven VR-Interface.

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Die Art und Weise, wie der Fechter kämpfte, konnte man nur als „besessen“ beschreiben.

Er flitzte so knapp an dem Beil des Level-6 Goblin Troopers vorbei, dass es mir kalt den Rücken runter lief. Nach drei erfolgreichen Ausweichmanövern verlor der Kobold endgültig die Balance, und der Fechter lies einen vollaufgeladenen Sword-Skill auf das hilflose Biest los.

Er benutze Linear, einen simplen Hieb, welcher der erste An-griff war, den man in der Kategorie Rapier lernte. Es war ein sehr gewöhnlicher Angriff, ein gradliniger Stoß aus zentraler Position, seine Schnelligkeit jedoch war erstaunlich. Es war eindeutig nicht nur das spielinterne Motion-Assistance-System, das hier arbeitete, sondern vielmehr sein eigenes athletisches Können.

Ich hatte während des Betatests unzählige Male gesehen, wie Party-Mitglieder und gegnerische Monster denselben Skill einsetzten, aber alles, was ich dieses Mal erkennen konnte, war der visuelle Effekt der Schwertbahn, und nicht die Klinge selbst. Das plötzliche Aufblitzen puren Lichts inmitten des düsteren Dungeons erinnerte mich an jene Sternschnuppe.

Nach drei Wiederholungen des Musters, Kombo des Kobolds ausweichen und mit Linear antworten, hatte der Fechter die bewaffnete Kreatur – eine der Stärksten in diesem Dungeon – besiegt, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Aber es war kein müheloser, einfacher Kampf. Als der letzte Hieb durch die Brust des Kobolds stach und ihn in leere Polygonscherben zerbersten ließ, stolperte er zurück und prallte gegen die Wand, als hätte das Zerbersten der Kreatur ihn weggedrängt. Der Mann rutschte die Wand hinunter, bis er schwer atmend auf dem Boden saß.

Er hatte mich nicht wahrgenommen, wie ich etwa fünfzehn Meter entfernt an einer Tunnelkreuzung stand.

Normalerweise wäre ich an dieser Stelle leise weggehuscht, und hätte mir meine eigene Beute zum Jagen gesucht. Seit ich vor einem Monat den Entschluss gefasst hatte, als eigennütziger Solospieler vorzugehen, habe ich mich nie besonders angestrengt auf andere Personen zuzugehen. Die einzige Ausnahme wäre, wenn jemand kämpfen und in Lebensgefahr schweben würde; der Fechter war aber kein einziges Mal unter Full-Health gefallen. Zumindest sah er nicht so aus, als hätte er es nötig, dass jemand sich einmischte und Hilfe anbot.

Und dennoch…

Ich zögerte fünf Sekunden lang, dann entschied ich mich, in die Richtung des sitzenden Spielers zu schlendern.

Er war dünn und kleinlich, trug eine leichte bronzene Brust-platte über einer tiefroten Tunika, eng anliegende Lederhosen und kniehohe Stiefel. Sein Gesicht lag versteckt unter einem Kapuzenumhang, der vom Kopf bis zur Taille ging. Abgesehen von dem Umhang war alles eine übliche leichte Rüstung eines flinken Fechters, ähnlich zu meiner Schwertkämpfer-Kleidung. Mein geliebtes Anneal Blade, die Belohnung einer hochrangigen Quest, war so schwer, dass ich auf sperriges Equipment verzichten musste, damit meine Bewegungen schnell blieben – ich trug nichts Schwereres als einen dunkelgrauen Ledermantel und ein kleines Bruststück.

Der Fechter zuckte zusammen, als er meine Schritte hörte, bewegte sich aber nicht weg. Er sollte meinen grünen Cursor gesehen haben, um sich zu vergewissern, dass ich kein Monster bin. Sein Kopf blieb zwischen den hochgezogenen Beinen hängen, ein klares Signal, dass er wollte, dass ich weiterging, aber ein paar Schritte entfernt hielt ich inne.

„Ein bisschen Overkill, wenn du mich fragst.“

Unter dem Umhang zuckten die zierlichen Schultern abermals. Die Kapuze rutschte ein oder zwei Zentimeter zurück, und ich sah zwei scharfe, funkelnde Augen auf mich gerichtet. Alles, was ich sehen konnte, war deren hellbraune Iris; die Konturen des Gesichts immer noch im Schatten.

Nach mehreren Sekunden eines durchdringenden, den Rapier-Hieben ebenbürtigen Blickes, neigte er den Kopf leicht nach links, anscheinend, um zu sagen, dass er mich nicht verstand.

Innerlich seufzte ich resigniert auf. Aber irgendetwas im Hinterkopf hielt mich davon ab, einfach meinen einsamen Weg weiter-zugehen.

Der Linear des Fechters war erschreckend perfekt. Nicht nur die Vor- und Nachbewegungen waren extrem kurz, auch der Angriff selbst war schneller, als man sehen konnte. Nie zuvor hatte ich einen so angsteinflößenden und wunderschönen Sword-Skill erlebt.

Zuerst nahm ich an, dass er ein weiterer ehemaliger Betatester war. Diese Schnelligkeit musste von Erfahrung aus der Zeit stammen, bevor diese Welt in seine jetzige tödliche Form gestürzt wurde.

Als ich den Linear aber ein zweites Mal sah, begann ich an dieser Annahme zu zweifeln. Im Gegensatz zu der Perfektion seiner Attacken, war der Kampfrhythmus des Fechters geradezu lebens-müde. Ja, die defensive Strategie, den gegnerischen Schlägen mit geringster Bewegung auszuweichen, führte zu schnelleren Gegen-angriffen als zu blocken oder zu parieren, und nutzte zudem das Equipment weniger stark ab. Aber die Konsequenzen eines Fehlers wiegten viel schwerer auf als alle positiven Aspekte. Im schlimmsten Fall könnte ein Treffer des Gegners als ein erfolgreicher Konter gewertet werden, was einen kurzen Stun auslöste. Für einen Einzelkämpfer war gestunt zu werden wie ein Todesurteil.

Es passte einfach nicht zusammen – brillante Schwertkunst, kombiniert mit schier leichtsinniger Strategie. Ich wollte wissen warum, deswegen ging ich auf ihn zu und fragte, ob es nicht Overkill sei.

Jedoch verstand er nicht einmal diese in Spielen sehr geläufige Bezeichnung. Der Fechter, der hier auf dem Boden saß, konnte kein Betatester sein. Er mochte vielleicht nicht einmal ein MMO-Spieler gewesen sein, bevor er in dieses Game kam.

Ich holte kurz Luft und begann mit einer Erklärung.

„Overkill ist eine Bezeichnung, die man benutzt, wenn man viel zu viel Schaden austeilt für die Menge an Leben, die das Monster noch hat. Nach deinem zweiten Linear war dieser Kobold fast tot. Er hatte nur noch zwei, drei Pixel des HP-Balkens übrig. Du hättest ihn einfach mit einer leichten Attacke niederstrecken können, anstatt einen ganzen Sword-Skill zu benutzen.“

Wie lange war es her gewesen, dass ich so viele Wörter am Stück gesagt hatte? Tage? Wochen? Dafür, dass in der Schule Japanisch nicht mein bestes Fach war, waren meine Ausführungen elegant wie ein Essay. Der Fechter aber, zeigte ganze zehn Sekunden lang keine Reaktion. Endlich murmelte eine sanfte Stimme aus den Tiefen des Umhangs.

„Gibt es ein Problem damit, zu viel Schaden zu machen?“

Endlich, letztendlich, hatte ich realisiert, dass der hockende Fechter eine der seltensten Begegnungen in dieser Welt, nicht zu reden von den Tiefen eines Dungeons war – kein männlicher Spieler, sondern eine Frau.

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Das weltweit erste VRMMORPG, Sword Art Online, hatte seine virtuellen Pforten fast einen Monat zuvor geöffnet.

In einem klassischen MMO würden die Spieler mittlerweile das Höchstlevel erreichen und die Weltkarte wäre ausführlich von vorne bis hinten erkundet. Hier in SAO jedoch, waren selbst die besten Spieler gerade mal um Level 10 – und keiner wusste, was die Ober-grenze war. Kaum mehr als ein paar Prozent des Spielsettings, der schwebenden Burg Aincrad, wurden bisher kartographiert.

SAO war nicht mehr wirklich ein Spiel. Es war eher wie ein Gefängnis. Ausloggen war unmöglich, und der Tod des Avatars des Spielers war gleichbedeutend mit dem Tod des Körpers des Spielers, Punkt. Unter solchen Umständen wagten es nur wenige, sich den Gefahren der Monster und Fallen eines Dungeons auszusetzen.

Obendrein hatte der Gamemaster die Avatare der Spieler in ihr Geschlecht aus dem echten Leben gezwungen, was bedeutete, dass es einen massiven Mangel an weiblichen Spielern gab. Ich vermutete, dass die meisten von ihnen immer noch im sicheren Bereich der Stadt der Anfänge verblieben. In diesem massiven Dungeon – dem Labyrinth der 1. Ebene – hatte ich bisher nur zwei oder drei Male eine Frau gesehen, und diese waren immer in großen Abenteuer-Parties unterwegs.

Deshalb ist es mir nie in den Sinn gekommen, dass der einsame Fechter am Rande des unerforschten Territoriums des Labyrinths wirklich eine Frau sein könnte.

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Ich überlegte kurz, eine Entschuldigung zu murmeln und davonzueilen. Ich war nicht auf einem Kreuzzug gegen all die Männer, die es immer darauf anlegten, jede weibliche Spielerin, die sie sahen, ohne zu zögern anzusprechen, aber ich wollte definitiv nicht als einer von ihnen identifiziert werden.

Hätte sie mit „Kümmer‘ dich um deinen eigenen Kram!“ oder „Ich kann tun, was ich will“ geantwortet, hätte ich keine andere Wahl gehabt, als zuzustimmen und mich zu verziehen. Aber die Antwort der Fechterin schien eine ehrliche Frage zu sein, also hielt ich inne und versuchte, mir eine gute Erklärung einfallen zu lassen.

„Naja…eine Strafe fürs Overkilling gibt es nicht im Spiel – es ist einfach ineffizient. Sword-Skills brauchen eine Menge Konzentration, je mehr man sie also benutzt, desto erschöpfter wird man. Ich meine, du musst es ja immer noch nach Hause schaffen, oder? Du solltest versuchen, mehr Energie zu sparen.“

„…Nach Hause schaffen?“, fragte die Stimme aus der Kapuze erneut. Sie war rau, monoton, und allem Anschein nach erschöpft, aber irgendwie fand ich sie schön. Das sagte ich natürlich nicht laut. Stattdessen versuchte ich weiter auszuführen.

„Ja. Es wird eine gute Stunde dauern, um von hier aus dem Labyrinth herauszukommen. Und die nächste Siedlung ist auch noch mal dreißig Minuten entfernt, richtig? Man macht mehr Fehler, wenn man müde ist. Du siehst mir wie ein Solospieler aus; Fehler können ganz schnell tödlich enden.“

Während ich sprach, fragte ich mich, warum ich sie überhaupt so ernsthaft belehrte. Nicht weil sie ein Mädchen war, dachte ich. Ich hatte sie angesprochen, bevor ich ihr Geschlecht wusste.

Wenn die Rollen vertauscht wären und mir jemand hochmütig einen Vortrag darüber halten würde, was ich tun sollte, würde ich ihm sicherlich sagen, dass er zur Hölle fahren soll. Als ich merkte, wie widersprüchlich meine Handlungen zu meiner Persönlichkeit waren, reagierte die Fechterin endlich.

„Wenn das so ist, gibt es kein Problem. Ich werde nicht nach Hause gehen.“

„Hm? Du gehst nicht…zurück zur Stadt? Aber was ist mit schlafen, Tränke nachfüllen, Ausrüstung reparieren…?“, fragte ich ungläubig. Sie zuckte kurz mit den Schultern.

„Tränke brauch ich nicht, wenn ich kein Schaden nehme, und ich habe fünf von demselben Schwert gekauft. Wenn ich Schlaf brauche, bekomme ich den einfach bei der Sicheren Zone in der Nähe“, sagte sie mit heiserer Stimme. Ich hatte keine Antwort.

Die Sichere Zone war ein kleiner Raum innerhalb des Dungeons, in dem keine Monster spawnten. Er war leicht durch die farbigen Fackeln in jeder der Ecken des Raums zu erkennen. Diese Zonen waren nützlich als Lager beim Jagen oder Kartographieren im Dungeon, aber sie waren nicht für mehr als ein kurzes Nickerchen gedacht. Die Räume hatten keine Betten, nur harte Steinböden, und die weiten Eingänge taten nichts, um die unablässigen Geräusche der monströsen Schritte und des Röchelns abzuhalten. Auch die härtesten aller Abenteurer konnten unter solchen Umständen keinen ehrlichen Schlaf finden.

Aber wenn ich ihre Aussage für bare Münze nahm, dann benutzte sie diese enge Steinkammer als Ersatz für einen richtigen Raum in einem Wirtshaus, um permanent innerhalb des Dungeons zu lagern. Könnte das wirklich richtig sein?

„Ähm…wie viele Stunden bist du schon hier drin?“, fragte ich, ängstlich die Antwort zu erfahren.

Sie atmete langsam aus. „Drei Tage…vielleicht vier. Bist du fertig? Das nächste Monster wird bald spawnen, ich muss los.“

Sie lehnte mit einer fragilen, behandschuhten Hand gegen die Wand des Dungeons und kletterte wackelig auf die Beine. Das Rapier so schwer wie ein Zweihänder in der Hand hängend, drehte sie mir den Rücken zu.

Als sie losging, sah ich zerlumpte Risse in ihrem Umhang, was auf seinen dürftigen Zustand hinwies. Eigentlich war es ein Wunder, dass der zarte Stoff nach vier Tagen in einem Dungeon überhaupt noch intakt war. Vielleicht war ihre Aussage darüber, keinen Schaden zu nehmen, nicht einfach nur leere Prahlerei…

Nicht einmal ich selbst rechnete mit den Worten, die als nächstes meinen Mund in Richtung ihres kleiner werdenden Rückens verließen.

„Wenn du weiter so kämpfst, stirbst du.“

Sie blieb stehen und stützte sich mit der rechte Schulter an der Wand ab, bevor sie sich umdrehte. Die Augen, die ich unter dem Um-hang für haselnussbraun gehalten hatte, schienen nun in einem hellen, durchdringenden Rot aufzublitzen.

„…Wir werden sowieso alle sterben.“

Ihre heisere, krachende Stimme schien die Temperatur der Dungeonluft herunterzufahren.

„Zweitausend Menschen sind in einem einzigen Monat gestorben. Und wir haben nicht einmal die 1. Ebene geschafft. Es ist unmöglich dieses Spiel durchzuspielen. Der einzige Unterschied ist, wann und wo wir sterben, früher…oder später…“

Die längste und emotionalste Äußerung, die sie bisher getätigt hatte, verlies ihre Lippen und hing in der Luft.

Ich ging instinktiv einen Schritt nach vorne und sah, wie sie leise zu Boden sackte, als sei sie von einer unsichtbaren Lähmung getroffen.

Kapitel 2[edit]

BEVOR SIE AUF DEM BODEN AUFKAM,

war der einzige Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, die banale Frage: „Was passiert wohl, wenn man in einer virtuellen Welt bewusstlos wird?“

Der Verlust des Bewusstseins ist ein kurzzeitiges Ausschalten des Gehirns, ausgelöst durch ein plötzliches Nachlassen der Blutzirkulation. Blut kann aufgrund einer Vielzahl an Ursachen aufhören zu Zirkulieren – Herz- oder Ader-Versagen, Anämie, niedriger Blutdruck, Hyperventilation – in einem VR Full Dive aber, war der physische Körper völlig stationär, in einem Bett oder Sessel. Außerdem wurde wahrscheinlich jeder, der in diesem Todesspiel feststeckte, in eine Medizinische Einrichtung in der Nähe transferiert, wo man regelmäßigen Kontrollen und der Verabreichung notwendiger Medikamente und Flüssigkeiten ausgesetzt war. Es war schwer sich vorzustellen, dass jemand aus rein physischen Ursachen in Ohnmacht fiel.

Diese Gedanken gingen durch ihr schwindendes Bewusstsein und akkumulierten sich schließlich zu einer einfachen Aussage: Es ist mir einfach nur noch egal.

Nichts war von Bedeutung. Sie würde hier sterben. Wenn sie inmitten eines von Monstern patrouillierten Labyrinths in Ohnmacht fiel, war es unmöglich, dass sie es sicher heraus schaffen würde. Es war ein anderer Spieler in der Nähe, aber der würde niemals sein eigenes Leben riskieren, nur um einen Fremden zu retten.

Außerdem, wie sollte er sie retten? Das Gewicht, dass ein Spieler in dieser virtuellen Welt tragen konnte, war streng von einem Spielsystem kontrolliert. Tief in einem gefährlichen Dungeon wie diesem, würde jeder Spieler schwer mit Tränken und Notvorräten beladen sein, ganz zu schweigen von dem Loot, den man auf dem Weg angesammelt hätte. Es war unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand zusätzlich zu alledem noch einen menschlichen Körper herumtragen könnte.

Dann realisierte sie etwas.

Für fliehende Gedanken kurz vor der Ohnmacht, hielten sie gewiss ganz schön lange an. Plus, unter ihr war nur harter Stein gewesen, warum spürte sie also etwas so Weiches gegen ihren Rücken drücken? Sie fühlte sich warm, irgendwie. Es kitzelte ihr sogar eine leichte Brise über die Wange.

Im nächsten Moment schnellten ihre Augen auf.

Sie war nicht in einem feuchten Dungeon, umgeben von kalten Steinwänden. Es war eine Lichtung inmitten eines Waldes, umgeben von uralten, mit goldenem Moos bewachsenen Bäumen und dornigen Büschen, die kleine Blümchen trugen. Sie war bewusstlos gewesen – nein, sie hatte geschlafen – auf einem Bett aus Gras, so weich wie ein Teppich, in der Mitte der runden Lichtung, etwa 7 Meter von einer Seite zur anderen.

Aber…wie? Sie hatte tief in diesem Dungeon ihr Bewusstsein verloren, also wie konnte sie den ganzen Weg zu diesem Außenbereich gekommen sein?

Die Antwort war neunzig Grad rechts von ihr.

Dort kauerte ein grauer Schatten, unter einem besonders großen Baum, am Rande der offenen Fläche. Er wog ein großes Schwert in beiden Händen und ruhte mit dem Kopf auf der Scheide. Sein Gesicht lag versteckt hinter einem längeren, schwarzen Pony, aber dem Equipment und Profil nach zu urteilen, musste es der Spieler sein, der Momente, bevor sie das Bewusstsein verlor, mit ihr gesprochen hatte.

Er musste irgendeinen Weg gefunden haben, sie aus dem Dungeon, und in diesen Wald zu tragen. Sie suchte entlang der Baumwipfel, bis sie ein paar hundert Meter entfernt auf ihrer Linken, endlich einen gewaltigen Turm, der sich bis zum Gewölbe hochschraubte, ausfindig machte – das Labyrinth der 1. Ebene von Aincrad.

Sie wandte sich wieder zu ihrer Rechten. Vielleicht ihre Bewegungen wahrnehmend, zuckten die Schultern unter dem grauen Ledermantel, und sein Kopf hob sich leicht. Selbst unter der Mittagssonne waren seine Augen schwarz, wie eine sternlose Nacht.

In dem Augenblick, in dem sie in diese tiefschwarzen Augen sah, ging ein kleines Feuerwerk hoch, tief in ihrem Hinterkopf.

„Du hättest dich nicht…kümmern sollen“, knurrte Asuna Yuuki mit knirschenden Zähnen.

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Von dem Moment an, in dem sie in dieser Welt gefangen wurde, hatte Asuna sich hunderte – wenn nicht tausende – Male dieselben Fragen gestellt.

Warum hatte sie sich dazu entschieden mit dieser brandneuen Spielekonsole zu spielen, auch wenn sie nicht mal ihre eigene war? Warum hatte sie den Helm auf ihren Kopf gesetzt, sich in den hohen Bürostuhl sinken lassen und das Kommando zum Hochfahren aufgesagt?

Asuna hatte das NerveGear nicht gekauft, dieses VR-Interface-der-Träume-verwandelt-in-verfluchtes-Instrument-des-Todes, oder die Game-Card für Sword Art Online, dieses enorme Gefängnis der Seelen – es war ihr viel älterer Bruder Kouichirou. Doch auch er war nie der größte Videospiel-Typ gewesen, viel weniger noch ein MMORPG-Liebhaber. Als Sohn des stellvertretenden Generaldirektors von RCT, einer der größten Elektronikhersteller des Landes, unterging er jeder Art von Bildung, die notwendig war, um ihrer Vaters Nachfolger zu werden, und alles, was nicht unter diese Pflichten fiel, wurde aus seinem Leben verbannt. Warum er Interesse für das NerveGear entwickelte – warum er sich für SAO entschied – war immer noch ein Rätsel für sie.

Ironischerweise jedoch, bekam Kouichirou nie die Chance das erste Videospiel, das er ja gekauft hatte, zu spielen. An jenem Tag, an dem SAO launchte, war er gerade Übersee, auf einer Geschäftsreise. Am Mittagstisch des Tages zuvor, versuchte er die Frustration wegzulachen, aber sie konnte spüren, wie enttäuscht er war.

Asunas Leben war nicht ganz so streng verlaufen, wie Kouichirous, aber auch sie hatte wenig Erfahrung mit Spielen außerhalb von kostenlosen Downloads auf ihrem Handy, selbst mit ihrem jungen Alter, in der neunten Klasse. Ihr war die Existenz von Onlinespielen bewusst, aber die Aufnahmeprüfungen zur High-School kamen immer näher, und sie hatte keine Gründe oder Motive eines anzufangen – sollte man annehmen.

Also hatte sie selbst keine Erklärung warum, an diesem Nachmittag des 6. Novembers 2022, sie in das leere Zimmer ihres Bruders geschlüpft war, das schon vorbereitete NerveGear auf ihren Kopf gesetzt hatte, und das „Link Start“-Kommando sprach.

Das Einzige, was sie mit Gewissheit sagen konnte war, dass sich alles änderte, an jenem Tag. Alles endete.

Asuna schloss sich in einem Raum eines Gasthauses in der Stadt der Anfänge ein, wollte warten, bis die Angelegenheit vorüber war. Als aber ganze zwei Wochen lang keine einzige Nachricht der Außenwelt ihren Weg zu ihnen gemacht hatte, verlor sie jede Hoffnung auf Rettung von außen. Und mit bereits über tausend toten Spielern und dem ersten Dungeon des Spiel immer noch unbeendet, verstand sie, dass man das Spiel von innen ebenso unmöglich besiegen konnte.

Die einzige Wahl, die noch blieb, war wie man starb.

Sie hatte die Option für Monate, eventuell Jahre, innerhalb des Schutzes der Stadt zu bleiben. Aber niemand konnte garantieren, dass die Regel – Monster können nicht in Städte eindringen – für immer aufrecht erhalten würde.

Asuna zog es vor die Stadt zu verlassen, anstatt sich wie ein Wollknäuel irgendwo in der Dunkelheit zusammenzurollen, in Angst vor der Zukunft lebend. Sie würde alle ihre Instinkte benutzen, um zu kämpfen, zu lernen und zu wachsen. Sollte ihr letztendlich die Puste ausgehen und sie umkommen, wenigsten hätte sie nicht die verbleibenden Tage um ihre verlorene Zukunft trauernd verbracht.

Renne – Stoße vor – und verblasse. Wie ein Meteor, der in der Atmosphäre verbrennt.

Das war Asunas Einstellung, als sie das Gasthaus verließ und in Richtung Wildnis schritt, ohne eine Ahnung von auch nur einem einzigen MMORPG-Begriff. Sie wählte eine Waffe, lernte einen einzigen Skill, und fand sich in dem Labyrinth wieder, dass niemand anderes erfolgreich erobert hatte.

Letzten Endes, um vier Uhr morgens am Freitag, den 2. Dezember, hatte die Akkumulation vieler, vieler Kämpfe zur Folge, dass es ihr aus Erschöpfung schwarz vor den Augen wurde, und ihre Quest hätte enden sollen. Der Name Asuna, der in den Stein des Monuments des Lebens, unterhalb des Schwarzeisenpalastes, gemeißelt war, wäre durchgestrichen worden, und alles hätte sein Ende gefunden.

Es hätte. Es sollte.

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„Du hättest nicht…“, wiederholte Asuna. Der am Boden kauernde, schwarzhaarige Schwertkämpfer richtete seine Augen, dunkel wie die Nacht, auf den Boden. Er schien etwas älter zu sein als sie, aber die überraschende Naivität in seiner Gestik verblüffte sie.

Wenige Sekunden später kehrte ihre erste Vermutung zurück, als ein zynisches Lächeln über seine Lippen lief. „Ich habe nicht dich gerettet“, sagte er leise. Es war die Stimme eines Jungen, aber etwas in ihr verschleierte sein wirkliches Alter.

„…Warum hast du mich dann nicht dort zurückgelassen?“

„Ich wollte nur deine Mapdaten retten. Wenn du vier Tage an der Front verbracht hast, musst du ein gutes Stück unerkundetes Land kartographiert haben. Es wäre zu schade, wenn das alles verschwinden würde.“

Sie schnappte nach Luft, bei der Logik und Effizienz in seiner Erklärung. Sie hatte dieselbe Antwort, die jeder andere, den sie getroffen hatte, ihr gab, erwartet; irgendein Geschwätz über die Bedeutung des Lebens oder, dass alle zusammenhalten müssten. Sie war vorbereitet all diesen Unsinn zu zerschneiden – verbal natürlich – aber die Zweckmäßigkeit seiner Antwort machte sie sprachlos.

„…Na gut. Nimm sie“, brummelte sie, und öffnete ihr Fenster. Sie hatte sich endlich an das Menüsystem gewöhnt, in dem sie jetzt zu dem Tab mit ihrer Map-Info wechselte und diese in eine Pergamentrolle kopierte. Ein weiterer Button materialisierte die Rolle als ein Ingame Objekt, das sie nun vor die Füße des Mannes warf. „Jetzt hast du, was du wolltest. Bis dann.“

Sie stützte sich mit einer Hand im Gras ab, und stand mit zitternden Beinen auf. Die Uhr in ihrem Fenster zeigte, dass sie fast volle 7 Stunden geschlafen hatte, aber die Erschöpfung war noch nicht vollkommen verschwunden. Allerdings, hatte sie noch drei Rapiere. Bevor sie losgegangen war, hatte sie sich gesagt, dass sie in dem Turm bleiben würde, bis die Haltbarkeit des Letzten unter der Hälfte sei.

In ihrem Kopf schwirrten immer noch ein paar Quellen des Misstrauens. Wie hatte der Schwertkämpfer in dem grauen Mantel es geschafft sie aus dem Turm und zu dieser Lichtung im Wald zu bringen? Und warum hatte er sie den ganzen Weg hier heraus gebracht und nicht nur in die nächste Sichere Zone innerhalb des Turms?

Sie waren es jedoch nicht wert umzukehren und ihn zu fragen. Also drehte sich Asuna zu ihrer Linken, in die Richtung des schwarzen, in die Höhe ragenden Labyrinths, und fing an loszumarschieren.

„Warte mal, Fechterin.“

„…“

Sie ignorierte ihn und ging weiter. Was er jedoch als nächstes sagte, ließ sie innehalten.

„Du tust das alles, aus dem Ziel das Spiel zu schlagen, oder? Nicht, um einfach in einem Dungeon zu sterben. Warum kommst du also nicht zu dem Treffen?“

„…Treffen?“, wunderte sie sich. Die Worte des Schwertkämpfers erreichten ihre Ohren in der sanften Brise des Waldes.

„Heute Nacht wird es ein Treffen in der Siedlung Tolbana in der Nähe des Turms geben. Es wird geplant, wie man den Boss des Labyrinths der 1. Ebene besiegen kann.“

Kapitel 3[edit]

AINCRADS FORM ÄHNELTE DER EINES KEGELS,

was bedeutete, dass die unterste Ebene die weiteste war. Die kreisförmige Ebene war ungefähr zehn Kilometer im Durchmesser mit einer Fläche von achtzig Quadratkilometern. Zum Vergleich: Die Stadt Kawagoe in der Präfektur Saitama, Zuhause von über dreihunderttausend Menschen, war an die hundert Quadratkilometer groß.

Aufgrund ihrer Größe konnte man tatsächlich eine beträchtliche Vielfalt an Gelände finden. An der südlichen Spitze der Landmasse war die Stadt der Anfänge, die mehr als einen Kilometer im Durchmesser, und von einer halbkreisförmigen Mauer umkreist war. Außerhalb der Stadt befand sich eine fruchtbare, grüne Grashügellandschaft, voll mit Ebern und Wölfen, sowie Insektenmonstern, wie Würmern, Käfern oder Wespen.

Gegenüber des Feldes im Nordwesten war ein tiefer Wald, während der Nordosten ein sumpfiges Tiefland, gesprenkelt mit Seen, aufbot. Jenseits dieser Regionen lagen Berge, Täler und Ruinen, alle mit ihrer entsprechenden Auswahl an Monstern. Am nördlichen Ende der Ebene war ein stämmiger Turm, fast dreihundert Meter breit und einhundert Meter hoch – das Labyrinth der 1. Ebene.

Neben der Stadt der Anfänge war die Ebene mit einigen anderen Siedlungen unterschiedlicher Größe gepunktet, die größte von ihnen – wenngleich unter 200 Meter von einem Ende zum anderen – war Tolbana, in einem Tal nahe des Labyrinths liegend.

Der erste Besuch eines Spielers in dieser friedvollen, von großen Windmühlen gesäumten Siedlung, war drei Wochen nach dem offiziellen Launch von Sword Art Online.

Zu dem Zeitpunkt, waren über achtzehnhundert Spieler dahingeschieden.

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Die mysteriöse Fechterin und ich verließen den Wald – nicht zusammen, sondern verlegen Abstand haltend – und traten durch das nördliche Tor von Tolbana.

Eine violette Nachricht in meinem Sichtfeld, die SAVE HAVEN las, zeigte an, dass wir uns innerhalb der Dorfgrenzen befanden. Sofort spürte ich, wie sich die Erschöpfung des langen Tages auf meine Schultern legte. Ein Seufzer entfloh meinen Lippen.

Wenn ich mich, nachdem ich erst diesen Morgen das Dorf verlassen hatte, schon so schlimm fühlte, musste die Fechterin hinter mir sich noch viel schlimmer fühlen. Ich drehte mich nach hinten, um nach ihr zu sehen, doch ihre kniehohen Stiefel wankten kein bisschen. Ein paar Stunden Schlaf konnten nicht die Ermüdung von drei Tagen des pausenlosen Kämpfens getilgt haben, also setzte sie wohl nach außen hin ein tapferes Gesicht auf. Eigentlich sollte die Rückkehr in das Dorf Anlass sein, Körper und Geist (und in diesem virtuellen Setting waren die beiden ein und dasselbe) zu entspannen, aber sie schien nicht in der Stimmung für Ratschläge zu sein.

Stattdessen ließ ich es kurz und knackig. „Das Treffen ist am Dorfplatz, vier Uhr Nachmittag.“

„…“

Das Gesicht unter der Kapuze nickte leicht, aber ging geradewegs an mir vorbei.

Eine leichte Brise ging durch das Taldorf, und ließ ihren Umhang flattern, als sie vorüberging. Ich öffnete kurz den Mund, aber fand nichts zu sagen. Ich hatte den letzten Monat rigoros damit verbracht, als Solospieler jeglichem Kontakt mit Menschen zu vermeiden; ich hatte kein Recht zu erwarten, dass irgendjemand mich mit offenen Armen empfangen würde. Die einzige Sorge, die ich hatte, war mein eigenes Leben zu retten.

„Seltsames Mädel, ne?“, raunte eine Stimme hinter mir. Ich wandte meinen Blick von der Fechterin ab und drehte mich um. „Scheint an der Schwelle des Todes zu stehen, aber stirbt nicht. Offensichtlich ein Newbie, aber ihre Bewegungen sind scharf wie Stahl. Wer kann sie nur sein?“

Die Stimme, ein hohes Plätschern, das am Ende jedes Satzes in ein eigenartiges Nasal überging, gehörte zu einer gerissenen kleinen Spielerin, einen ganzen Kopf kleiner als ich. Wie ich trug sie nur Stoff- und Lederrüstung. Die Waffen an ihrer Hüfte waren eine kleine Klaue und einige Wurfnadeln. Es wirkte nicht wie die Art von Zeug, die sie hier heraus, in diese gefährliche Zone bringen würde; die größte Waffe dieser Person aber, hatte keine Klinge.

„Du kennst diese Fechterin?“, fragte ich sie automatisch, verzog aber sofort das Gesicht, ihre Antwort vorausahnend. Ganz wie erwartet hielt die kleine Frau eine Hand hoch, alle fünf Finger ausgestreckt.

„Ich mach es billig. Fünfhundert Col?“

Das lächelnde Gesicht hatte ein ganz hervorstechendes Merkmal. Sie hatte ein kosmetisches Item benutzt, um drei Linien in der Form von Schnurhaaren auf beide Wangen zu malen. Kombiniert mit ihren kurzen, mausbraunen Locken, war der Gesamteffekt unverkennbar Nagetier-artig.

Ich hatte sie schon einmal gefragt, warum sie diese Erscheinung wählte, aber ihre einzige Antwort war: „Man fragt ein Mädchen nicht nach dem Grund, warum sie sich schminkt, ne? Ich sag’s dir für hunderttausend Col“. Darum war die Antwort noch immer ein Mysterium.

Im Stillen schwor ich mir, dass ich eines Tages ein seltenes Item zu Geld machen würde, um die exorbitant hohe Summe zu zahlen und sie zu einer Antwort zu zwingen.

„Ich fühl mich nicht wohl dabei, in den privaten Angelegenheiten eines Mädchens herumzuwühlen“, murmelte ich ernst.

„Ni-hii! Gute Einstellung“, sagte sie aufziehend. Argo die Ratte, der erste Informationshändler Aincrads, gluckste vor Lachen.

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Pass auf. Fünf Minuten Schwatzen mit der Ratte und sie hat dir 500 Col aus der Tasche gezogen, warnte mich einmal jemand. Aber nach eigener Aussage hatte Argo noch nie eine Information verkauft, deren Verifizierung unklar war. Sie bezahlte eine Quelle immer für Informationen, die es ihrer Ansicht nach Wert waren, und wandelte diese erst in ein kaufbares Produkt um, wenn sie sichergestellt hatte, dass die Geschichte hieb und stichfest war. Mir war klar, dass ein einzelnes Stück unglaubhafte Information, dass für Geld verkauft wurde, ihren Ruf ruinieren könnte. Auch wenn es nicht dasselbe, wie Loot in einem Dungeon zu farmen und ihn an NPCs zu verkaufen war, hatte auch ihr Geschäft seine Tücken.

Obwohl ich wusste, dass meine Skepsis sexistisch war, konnte ich nicht anders, als mich zu fragen, warum eine weibliche Spielerin sich auf eine derart gemeingefährliche Arbeit einlassen würde. Aber ich wusste, wenn ich sie danach fragte, würde sie mir nur ein weiteres Preisschild von einhunderttausend Col aushängen, daher räusperte ich mich und fragte eine andere Frage.

„Und? Ist es heute wieder eine dieser Stellvertreterverhandlungen, statt deinem Hauptgeschäft?“

Jetzt war es an Argo, finster dreinzublicken. Sie schaute sich nervös um, und tippte mir dann auf den Rücken, um mich in eine nahegelegene Gasse zu führen. Da das Boss-Treffen noch ganze zwei Stunden entfernt war, tummelten sich nur wenige Spieler in dem Dorf, aber es schien wichtig zu sein, dass sie nicht belauscht wurde – wahrscheinlich hatte es mit ihrem Ruf als Hüterin der Geheimnisse zu tun.

Argo kam in dem schmalen Gässchen zum Stehen, lehnte den Rücken gegen eine Hauswand (natürlich von einem NPC bewohnt) und nickte.

„Yep, du hattest recht. Sie würden bis neunundzwanzigtausend-achthundert Col hochgehen.“

„Neunundzwanzig, hm?“, ich verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid…meine Antwort bleibt gleich, egal wie hoch die Zahl ist. Ich werde nicht verkaufen.“

„Hab ich dem Klienten auch gesagt, aber was soll man machen?“

Argos Hauptgeschäft war das Verkaufen von Informationen, aber sie benutze ihre exzellenten Agility Stats, um nebenbei als Bote zu arbeiten. Normalerweise gab sie einfach nur kurze verbale oder geschriebene Nachrichten weiter, aber über die letzte Woche hinweg spielte sie den Verhandlungsführer zwischen mir und Jemandem, der sehr hartnäckig, wenn nicht sogar aufdringlich war.

Er (oder sie) wollte mein Anneal Blade + 6 (3S3H) kaufen.

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Das Waffenverstärkungssystem in SAO war für ein modernes MMORPG relativ simpel. Es gab fünf Parameter: Schärfe, Flinkheit, Genauigkeit, Last und Haltbarkeit. Gegen Bezahlung konnte ein NPC- oder Spieler-Schmied für dich versuchen, einen bestimmten Stat anzuheben. Dieser Prozess erforderte spezifische Crafting-Materialien, abhängig von dem Stat, und es gab immer die Wahrscheinlichkeit, dass es fehlschlagen würde. Dies funktionierte ähnlich, wie in anderen Spielen.

Jedes Mal, wenn ein Parameter erfolgreich erhöht wurde, bekam der Waffenname ein +1, oder +2, und so weiter, die tatsächlich beeinflussten Stats waren allerdings erst sichtbar, wenn man direkt auf die Item-Eigenschaften ging. Da es mühsam wäre jedes Mal „Plus eins auf Genauigkeit und plus zwei auf Last“ beim Handeln mit anderen Spielern zu sagen, war es üblich, die Information stattdessen abzukürzen. So wurde also eine +4 Waffe mit 1 auf Genauigkeit, 2 auf Last, und 1 auf Haltbarkeit, als „1G2L1H“ bezeichnet.

Mein Anneal Blade +6 (3S3H) war bei Schärfe und Haltbarkeit um jeweils drei Punkte erhöht. Es brauchte einiges an Durchhaltevermögen und Glück, um es auf der 1. Ebene schon so viel zu verbessern. Nur wenige Spieler machten sich die Mühe, an dem Schmieden-Skill zu arbeiten – der keinen Einfluss auf Ihre Überlebenschancen hatte – und trotz des zwergenhaften Erscheinens der NPC-Schmiede war ihr tatsächliches Können eher Enttäuschend.

Selbst die Waffe an sich war die Belohnung für eine extrem schwierige Quest, so dass die aktuellen Werte des Schwertes ungefähr das Maximum sein mussten, das ein Spieler auf der 1. Ebene erwarten konnte. Trotzdem war es immer noch Anfängerequipment. Ich könnte es noch ein paar Mal hochziehen, aber auf der zweiten oder dritten Ebene würde ich wohl ein besseres Schwert finden und der Prozess würde wieder von vorne beginnen.

Aus diesem Grund hatte ich Schwierigkeiten die Motive von Argos Klienten zu begreifen, für ein solches Schwert die gewaltige Summe von 29.800 Col zu bezahlen. Bei einer Verhandlung von Angesicht zu Angesicht, könnte ich den Käufer einfach fragen, aber ohne einen Namen, den man verfolgen konnte, gab es keine Möglichkeit, mehr über ihn zu erfahren.

„Und wieviel zahlen sie dir, um zu schweigen? Tausend?“, fragte ich. Argo nickte.

„Jo, will ich doch meinen. Lust den Einsatz zu erhöhen?“

„Hmm…ein k, was? Hmmmm.“

Dieses „Schweigegeld“ war eine Summe, die Mysteriöser Bieter X Argo zahlte, damit sie seine Identität geheim hielt. Böte ich 1.100 Col, würde Argo das per Instant-Message rüberreichen, bis sie mit 1.200 Col ankämen. Dann wäre ich gefragt 1.300 aufzubringen, und so weiter. Nachdem ich dieses Bietergefecht gewonnen hätte, würde ich herausfinden, wer mein Schwert kaufen wollte, sowie eine bedeutende Summe Geld verlieren. Das wäre eindeutig ein idiotisches Ergebnis.

„Großartig…du bist also ein Informant, der sogar Geld macht, wenn er nicht verkauft? Ich bewundere die Hingabe zu deinem Geschäft“, murrte ich. Argos Schnurrhaare formten sich zu einem Grinsen und sie brach in ein fauchendes Gelächter aus.

„Das ist das Beste daran, ne? In dem Moment, in dem ich eine Info verkaufe, habe ich schon ein brandneues Produkt parat: Dieser-und-Jener hat gerade diese-und-jene Information gekauft. Doppelter Profit!“

Im echten Leben würde ein Geschäftsmann niemals die Namen seiner Klienten offenlegen, aber angesichts des Mottos der Ratte, „Jede Information hat einen Preis“, schien sie sich nicht an dieses Tabu zu halten. Jeder, der mit ihr einen Deal machen wollte, musste vorher wissen, dass seine eigenen Informationen verkauft werden könnten, aber wenn das Produkt so hervorragend war, wer konnte sich dann schon über den Preis beschweren?

„Wenn irgendwelche weiblichen Spielerinnen meine persönlichen Daten haben wollen, sag mir Bescheid, damit ich ihre zuerst kaufen kann“, sagte ich müde. Argo gackerte wieder, setzte dann aber eine ernste Miene auf.

„Okay, ich geb‘ dem Klienten Bescheid, dass du wieder abgelehnt hast. Ich werde sogar meine Meinung, dass ihre Mühen vergebens sind mit einwerfen. Mach’s gut, Kirilein.“

Die Ratte drehte sich um, winkte, und flitze dann so flink wie ihr Namensfetter aus der Gasse. Nach einem letzten, flüchtigen Blick auf ihr in der Menge verschwindendes Haar, bekam ich das sichere Gefühl, sie würde sich niemals umbringen lassen.

Ich hatte im Verlauf des ersten Monats von SAO, diesem Todesspiel, einiges gelernt.

Was entschied über die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler lebte oder starb? Es gab eine unzählige Anzahl an Faktoren – den Vorrat an Tränken, das Wissen, wann man einen Dungeon verlassen muss, und so weiter – aber irgendwo im Zentrum dieser verworrenen Variablen war die Präsenz des Kerns einer Person, etwas, an das sie bedingungslos glauben konnte. Man könnte es Jemandes größte Waffe nennen, ein Werkzeug, das für das Überleben unabdingbar war.

Für Argo, war es Information. Sie wusste alles Wichtige: Wo die gefährlichsten Monster waren und die besten Orte zum Jagen. Dieses Wissen gab ihr Selbstvertrauen und einen kühlen Kopf, was ihre Überlebenschancen erhöhte.

Was war mein Kern? Es musste das Schwert auf meinem Rücken sein. Genauer gesagt, war es das Gefühl, das ich bekam, wenn meine Klinge und ich eins wurden. Ich hatte es bisher nur ein paar Mal geschafft in diesen mentalen Zustand zu kommen, aber es war das Verlangen, diese Kraft nach Belieben zu kontrollieren, der unangefochtene Herrscher dieses Reiches zu werden, das mich am Leben hielt. Der Grund, warum ich Punkte in Schärfe und Haltbarkeit statt in Flinkheit oder Genauigkeit investierte, war einfach: Erstere waren rein Numerische Werte, während Letztere das System an Sich beeinflussten. Sie veränderten das Gefühl das Schwert zu schwingen.

Aber dann…

Was war mit der Fechterin an der Front des Labyrinths. Was war ihr Kern? Ich hatte sie aus dem Dungeon transportiert (mit Mitteln, die ich ihr niemals sagen konnte), aber wäre sie wirklich gestorben, wenn ich nicht da gewesen wäre? Ich konnte mir leicht vorstellen, wie sie unbewusst wieder auf die Beine kommen würde, wenn der nächste Kobold angelaufen käme; und wie sie ihren Linear benutzen würde, um das Biest abzufertigen.

Was brachte sie dazu, eine solch grausame Abfolge von Kämpfen durchzumachen? Was hatte sie bis jetzt am Leben gehalten? Sie musste irgendeine Kraftquelle haben, die ich nur erahnen konnte.

„Vielleicht hätte ich Argo die 500 Col bezahlen sollen“, murmelte ich, schüttelte den Kopf und schaute nach oben.

Die weiß gestrichenen Windmühlen, Wahrzeichen Tolbanas, hatten schon einen kleinen Hauch von Orange angenommen. Es war kurz nach drei Uhr – Zeit einen kleinen Happen zu essen, bevor das zweifelsfrei lange und ermüdende Boss-Raid-Treffen begann.

Um Vier, wenn das Treffen begann, würden die Dinge hässlich werden.

Heute würde zum ersten Mal eine verborgene Kluft zwischen den SAO-Spielern auftreten: Der unüberbrückbare Abstand zwischen den neuen Spielern und den Betatestern…

Es gab nur eine Information, die Argo die Ratte sich weigerte, an andere zu verkaufen, und zwar, ob eine Person ein Betatester gewesen war oder nicht. Sie war mit dieser Philosophie nicht allein. Alle ehemaligen Betatester, die einander am Namen oder Stimme erkennen konnten, wenn nicht sogar am Gesicht, vermieden es mit Absicht miteinander in Berührung zu kommen. Die vorherige Begegnung mit Argo war nicht anders. Wir beide wussten, dass der andere ein Betatester war, aber wir gaben uns enorme Mühe nie darüber sprechen zu müssen.

Der Grund war einfach: Öffentlich als ein Betatester geoutet zu werden, konnte tödlich enden.

Nicht wegen irgendwelcher Monster in einem Dungeon, sondern weil man von einem Lynchmob aus neuen Spielern umgebracht werden konnte, wenn man allein auf der Map herumlief. Sie glaubten, dass die Betatester Schuld daran hatten, dass zweitausend Spieler innerhalb eines Monats den Tod fanden.

Und ich konnte diese Anschuldigungen nicht vollständig abstreiten.

Kapitel 4[edit]

ALS IHRE ERSTE MALZEIT IN DREI ODER VIELLEICHT VIER TAGEN,

wählte Asuna eine Scheibe des billigsten Schwarzbrotes, dass die NPCs im Dorf verkauften, sowie das kostenlose Wasser, dass es an einem der vielen Springbrunnen an diesem Ort gab.

Sie hatte im echten Leben nie besonders gerne gegessen, aber die totale Leere des Essens in dieser Welt war schwer zu beschreiben. Egal wie prachtvoll das Mahl auch aussehen mochte, kein einziges Korn Salz oder Zucker erreichte ihren echten Körper. Es schien ihr, als hätte man das ganze Konzept von Hunger und Sattheit einfach abschaffen sollen, aber der virtuelle Körper verlangte drei Mal am Tag nach Essen, und der stechende Hunger verschwand nicht, bis virtuelle Nahrungsmittel gegessen wurden.

Sie hatte gelernt, das Hungergefühl durch schiere Willenskraft zu unterdrücken, während sie im Dungeon war, aber zurück in der Stadt, ließ sich das Bedürfnis nicht mehr verbergen. Als Protestakt, wählte sie immer die billigste Option, und es machte sie gewissermaßen wütend, dass selbst das grobe, in Scheiben geschnittene Schwarzbrot eigentlich ziemlich gut schmeckte.

Asuna saß auf einer einfachen Holzbank am Brunnenplatz, im Zentrum von Tolbana, und nagte mit heruntergezogener Kapuze vor sich hin. Dafür, dass das Brot nur einen einzigen Col gekostet hatte, war es ziemlich groß. Gerade, als sie die Hälfte aufgegessen hatte–

„Echt gut, nicht wahr?“, kam eine Stimme von ihrer Rechten. Ihre Finger, die gerade ein weiteres Stück Brot abreißen wollten, hielten inne und sie warf einen scharfen Blick in diese Richtung.

Es war der Mann, den sie gerade vor ein paar Minuten am Dorfeingang zurückgelassen hatte, der schwarzhaarige Schwertkämpfer im grauen Mantel. Der Fremde, der sich einmischte, ihren bewusstlosen Körper aus dem Dungeon beförderte, und damit ihre Reise fortsetzte, als sie eigentlich hätte enden sollen.

Ihre Wangen wurden plötzlich heiß, bei diesem Gedanken. Nach all ihren kühnen Aussagen über das Sterben, war sie nicht nur am Leben, sondern er sah ihr auch noch dabei zu, wie sie an einer Mahlzeit kaute. Ihr gesamtes Dasein war von Schande befleckt und sie erstarrte, unsicher wie sie antworten sollte.

Der Mann räusperte sich schließlich höflich und fragte: „Darf ich mich neben dich setzten?“

Normalerweise würde sie einfach aufstehen und ohne einen zweiten Blick abmarschieren. In dieser ungewohnten Situation aber, wusste sie nicht mehr weiter. Er deutete Asunas Schweigen als stille Erlaubnis, setzte sich auf die äußerste rechte Ecke der Bank, um Asuna so viel Platz wie möglich zu lassen, und kramte in seiner Tasche. Als seine Hand wieder auftauchte, hielt sie ein rundes, schwarzen Objekt – ein Exemplar des Ein-Col Schwarzbrotes.

Für einen Moment vergas Asuna ihre Scham und Verlegenheit und schaute einfach nur erstaunt zu ihm auf.

Wenn er gut genug war, um so tief in das Labyrinth vorzudringen und eine so ausgezeichnete Ausrüstung zu haben, musste dieser Schwertkämpfer genug Geld haben, um sich ein volles Gänge-Menü in einem schönen Restaurant zu leisten. War er einfach ein Schnäppchenjäger? Oder…

„Findest du echt, dass das gut schmeckt?“, fragte sie, bevor sie sich aufhalten konnte. Er setzte einen Ausdruck verletzter Würde auf, und nickte energisch.

„Natürlich. Ich habe jeden Tag eins gegessen, seit ich in diesem Dorf bin. Allerdings füge ich einen kleinen Kniff hinzu.“

„Kniff…?“

Verwirrt neigte sie den Kopf unter der Kapuze. Anstatt laut zu erklären, griff der Schwertkämpfer in seine andere Tasche und holte ein kleines Porzellanglas hervor. Er stellte es auf der Bank zwischen ihnen ab und sagte: „Wende das auf dein Brot an.“

Für einen Moment war sie sich nicht sicher, was er mit „auf das Brot anwenden“ meinte, dann wurde ihr klar, dass es eine normale Videospielphrase war. Wende den Schlüssel auf die Tür an, wende die Flasche auf den Brunnen an, und so weiter. Sie streckte zögernd die Hand aus und berührte mit einer Fingerspitze den Deckel das Glases. Sie wählte „Benutzen“ in dem Pop-Up Menü, das erschien und ihr Finger fing an violett zu leuchten, das Signal für „Target-Selection-Modus“. Durch Berührung des Brotes in ihrer linken Hand würden die Objekte interagieren.

Mit einem kurzen Klingeln war das Brot plötzlich weiß, überzogen – nein, bedeckt – mit einer dicken Substanz, die aussah wie–

„…Sahne? Woher hast du die?“

„Das war die Belohnung für die Quest Das Rind schlägt zurück im letzten Dorf. Die dauert echt lange, also glaube ich nicht, dass sich viele Spieler die Mühe gemacht haben sie abzuschließen“, sagte er ernst, während er das Glas mit geübten Handgriffen auf sein Brot anwendete. Es musste die letzte Ladung des Gefäßes gewesen sein, denn das Glas blinkte auf und verschwand. Er machte seinen Mund weit auf und nahm einen großen Bissen von dem mit Sahne beschmierten Brot. Er kaute so energisch, dass sie praktisch die Soundeffekte hören konnte, und Asuna realisierte, dass zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, das Gefühl in ihrem Magen kein unangenehmes Schmerzen war, sondern das gesunde Zeichen von ehrlichem Hunger.

Sie nahm einen zögerlichen Bissen aus dem sahnigen Brot in ihrer Hand. Auf einmal verwandelte sich das grobe, trockene Brot, dass sie bis jetzt gegessen hatte, in einen deftigen, ländlichen Kuchen. Die Sahne war süß und mild, mit einer erfrischenden, joghurtartigen Säure. Asuna nahm noch mehr genüssliche Bisse, ihre Wangen voll mit einem betäubenden Gefühl der Zufriedenheit.

Das nächste, was sie wusste, war, dass kein einziger Krümmel des Items in ihren Händen übrig war. Erschrocken schaute sie rüber, um zu sehen, dass sie ihres zwei Sekunden eher, als der Schwertkämpfer aufgegessen hatte. Wieder einmal überkam sie der Scham und sie wollte aufstehen und weglaufen, konnte sich aber nicht dazu bringen, so unhöflich zu dem Mann zu sein, der ihr gerade eine so köstliche Mahlzeit spendiert hatte.

Schwer atmend, im Versuch ihren Gedanken zu ordnen, schaffte Asuna es endlich eine höfliche Antwort zu krächzen.

„………Danke für das Essen.“

„Gern geschehen.“

Fertig mit seiner Mahlzeit klatsche der Schwertkämpfer in die fingerlos-behandschuhten Hände und fuhr fort. „Falls du die Rind-Quest machen möchtest, von der ich erzählt habe, es gibt da einen Trick. Wenn man effizient ist, kann man sie in nur zwei Stunden schaffen.“

„…“

Sie musste gestehen, dass die Verlockung groß war. Mit dieser Joghurt-Sahne wurde ihr billiges Schwarzbrot zu einem echten Festmahl. Es war zwar nur ein künstlicher Genuss, vom Geschmack-Modellierungs-System des Spiels erschaffen, aber sie wollte ihn wieder – jeden Tag, wenn möglich.

Aber…

Asuna blickte nach unten und schüttelte leise ihren Kopf. „Ich verzichte. Ich bin nicht hierhergekommen, um gut zu essen.“

„Ich verstehe. Warum dann?“

Die Stimme des Schwertkämpfers war zwar nicht besonders melodisch, aber sie hatte einen jungenhaften Ton in ihr, der ihren Ohren keinesfalls missfiel. Wahrscheinlich war es dieses Merkmal, dass sie dazu brachte, frei auszusprechen, was ihr auf dem Herzen lag, etwas, das sie mit keinem anderen in dieser Welt getan hatte.

„Damit ich…ich selbst sein kann. Ich wäre lieber bis zum letzten Moment ich selbst, als mich einfach nur in der Stadt der Anfänge zu verkriechen und vor mich hinzurotten. Selbst, wenn das bedeutet, durch die Hand eines Monsters zu sterben…ich will nicht, dass dieses Spiel mich besiegt. Ich werde das nicht zulassen.“

Die fünfzehn Jahre von Asuna Yuukis Leben waren eine lange Reihe von Kämpfen gewesen. Es begann mit den Aufnahmeprüfungen für die Grundschule und ging weiter mit einer endlosen Abfolge von großen und kleinen Prüfungen. Sie hatte sie alle bewältigt. Eine einzige Niederlage hätte bedeutet, dass ihr Leben nichts mehr wert war. Diesen Druck hatte sie von Anfang an erfolgreich geschultert.

Aber nach fünfzehn Jahren des Gewinnens würde diese Prüfung, Sword Art Online, wahrscheinlich ihr Ende bedeuten. Es war zu rätselhaft für sie. Eine Kultur, die von fremden und ungewohnten Regeln durchzogen war, und es war nicht die Art von Kampf, die man allein gewinnen konnte.

Die einzige Möglichkeit zu gewinnen, war die Spitze der riesigen schwebenden Burg zu erreichen, ganze hundert Ebenen über ihnen, und den letzten Gegner zu besiegen. Aber einen Monat nach dem Start des Spiels war bereits ein Fünftel der Spieler verschwunden, und die meisten von ihnen waren vertraut gewesen, mit den Wegen dieser Welt. Die übrig gebliebenen Kräfte waren zu schwach, für den Weg, der vor ihnen lag, für diesen langen, so unvorstellbar langen Weg...

Als hätte man den Wasserhahn mit ihren innersten Gefühlen ein klein wenig aufgedreht, sickerten die Worte Tropfen für Tropfen aus ihrem Mund. Das Geständnis kam in Bruchstücken, Stücken von Logik, die sich nicht zu ganzen Sätzen summierten, aber der schwarzhaarige Schwertkämpfer saß und hörte schweigend zu. Als Asunas Stimme am Ende in der Abendbrise verklungen war, sprach er schließlich.

„…Es tut mir leid.“

Ein paar Sekunden später fragte sich Asuna skeptisch, warum er so etwas sagen sollte.

Sie hatte ihn doch erst heute kennengelernt. Er hatte keinen Grund, sich bei ihr zu entschuldigen. Sie spähte zu ihrer Rechten und sah, dass er auf der Bank zusammengekauert saß, die Ellbogen auf den Knien. Seine Lippen bewegten sich, und weitere undeutliche Worte erreichten ihre Ohren.

„Es tut mir leid…Die jetzige Situation – der Grund, warum du dich so eingeengt fühlen musst– ist wegen…“

Aber den Rest konnte sie nicht verstehen. Die besonders große Windmühle im Dorfzentrum begann ihre windbetriebene Glockenuhr zu läuten.

Es war vier Uhr, der Zeitpunkt des Treffens. Sie schaute auf und sah, dass sich eine große Anzahl von Spielern auf dem Brunnenplatz versammelt hatte.

„Lass und gehen. Immerhin hast du mich doch zu diesem Treffen eingeladen“, sagte Asuna und stand auf. Er nickte und stand langsam auf. Was wollte er sagen? Letztendlich war es egal, denn sie würde nie wieder mit ihm sprechen, aber der Gedanke bohrte sich wie ein kleiner Dorn in ihr Gehirn. Ich will es wissen. Ich will es nicht wissen. Selbst Asuna wusste nicht, welches Verlangen stärker war.

Kapitel 5[edit]

VIERUNDVIERZIG.

Das war die Zahl der Spieler, die sich in Tolbana um den Brunnen herum zusammenfanden.

Ich musste zugeben, dass das weit unter meinen Erwartungen – meinen Hoffnungen – lag. Eine offizielle Party in SAO konnte aus bis zu sechs Spielern bestehen, und eine Schar von acht davon, also insgesamt achtundvierzig Leute, war eine vollständige Raid-Party. Meine Erfahrungen aus dem Betatest hatten gezeigt, dass man einen Ebenen-Boss am besten mit zwei Raid-Parties ohne Verluste bewältigen konnte, aber es reichte nicht einmal für eine.

Ich atmete tief ein, hielt den Seufzer aber zurück, als eine Stimme von hinten kam.

„Es sind…so viele…“

Es war die Fechterin mit dem Kapuzenumhang. Ich drehte mich um und schoss zurück: „Viele…? Du nennst das viele?“

„Ja. Ich meine, sie sind alle hier, für den ersten Versuch, gegen das Bossmonster dieser Ebene anzutreten, richtig? Obwohl sie wissen, dass sie dabei alle sterben könnten…“

„…Ich verstehe.“

Ich nickte und sah mir die kleinen Gruppen von Kämpfern an, die sich auf dem Platz versammelt hatten.

Es gab fünf oder sechs Spieler, die ich vom Namen her kannte, und weitere fünfzehn oder so waren bekannte Gesichter, denen ich an der Front begegnet war. Die restlichen etwa zwanzig waren mir alle unbekannt. Natürlich war das Geschlechterverhältnis extrem unausgeglichen. Soweit ich erkennen konnte, war die Fechterin die einzige Frau in der Gruppe, aber da sie ihre Kapuze tief übers Gesicht gezogen hatte, war das nicht offensichtlich, und ich war mir sicher, dass jeder andere Beobachter zum Schluss kommen würde, es seien alles Männer. Auf der anderen Seite des Platzes hockte Argo die Ratte auf einer hohen Mauer, aber sie würde sich nicht am Kampf beteiligen.

Die Fechterin hatte Recht – sie alle würden dem Boss der 1. Ebene gegenüberstehen, einem Feind, den niemand zuvor gesehen hatte, zumindest nicht im Release-Aincrad. Von allen Kämpfen, die man auf der 1. Ebene bestreiten konnte, würde dieser das höchste Todesrisiko bergen. Das bedeutete, dass jeder dieser Spieler auf die Möglichkeit zu sterben, und als Trittstein für diejenigen zu dienen, die nach ihm kamen vorbereitet war. Allerdings…

„Ich…bin mir nicht so sicher“, murmelte ich. Sie wandte sich wieder zu mir, ihre Augen in der Kapuze zweifelnd blitzend. Ich wählte meine Worte weise.

„Natürlich muss es nicht auf jeden zutreffen, aber ich denke, dass eine ganze Reihe von ihnen es nicht aus Selbstlosigkeit tut, sondern weil sie einfach nicht im Staub zurückgelassen werden will. Wenn überhaupt, bin ich wohl selbst einer der Letzteren.“

„Im Staub zurückgelassen? Von wem?“

„Von der Front. Der Gedanke zu Sterben ist beängstigend, aber auch die Vorstellung, dass der Boss ohne dich besiegt wird.“

Die Kapuze aus Stoff senkte sich leicht. Ich nahm an, dass sie als völlige Anfängerin in MMOs nicht verstehen würde, was ich meinte. Aber da lag ich falsch.

„Ist das die gleiche Art von Motivation…wie wenn man nicht unter die besten zehn der Klasse fallen will, oder wenn man über dem siebzigsten Perzentil bleiben will, oder so was in der Art?“

„…“

Jetzt war es an mir, die Stimme zu verlieren. Letztendlich stimmte ich zu. „Ja…ähm…ich denke schon…“

Die wohlgeformten Lippen, die durch die Kapuze sichtbar waren, verzogen sich zu einem winzigen Lächeln, und ich hörte sie leise nach Luft schnappen. War sie…am Lachen? Die Besitzerin dieses ultrapräzisen Linears. Diejenige, die mir gesagt hatte, ich hätte mich nicht kümmern sollen, als ich sie aus dem Dungeon holte?

Ich war kurz davor, unhöflich unter die Kapuze zu starren, aber ich wurde von diesem Fauxpas durch das Geräusch von lautem Klatschen und einem Ruf, der über den Platz hallte, bewahrt.

„Alles klar, Leute! Es ist schon fünf Minuten nach, also lasst uns anfangen! Versammelt euch, Leute – ihr da, drei Schritte näher!“

Der Sprecher war ein Schwertkämpfer in einer schimmernden Metallrüstung. Er sprang leichtfüßig aus dem Stand auf den Rand des Brunnens in der Mitte des Platzes. Ein Sprung von solcher Höhe in schwerer Rüstung zeigte allen, dass er über ausgezeichnete Kraft und Beweglichkeit verfügte.

Einige in der etwa vierzigköpfigen Menge wurden unruhig, als er sich umschaute, um die Gruppe zu mustern. Und nicht ohne Grund – der Mann, der dort auf dem Rand des Brunnen stand, war so blendend hübsch, dass man sich wunderte, warum so jemand überhaupt ein VRMMO spielen sollte. Außerdem hatte er die gewellten Locken, die sein Gesicht umrahmten, in einem leuchtenden Blau gefärbt. Haarfärbemittel gab es nicht bei den NPC-Händlern der 1. Ebene zu kaufen, also musste er es als seltenen Drop von einem Monster bekommen haben.

Wenn er sich all diese Mühe gemacht hatte, nur um vor der Menge gut auszusehen, war er wahrscheinlich enttäuscht, dass es nur eine Frau in der Gruppe gab (und es war nicht einmal klar, dass sie eine war, aufgrund der Kapuze), aber der Mann setzte nur weiter ein schneidiges Lächeln auf, das signalisierte, dass er sich niemals zu einer solchen Denkweise herablassen würde.

„Danke, dass ihr heute alle meinem Ruf gefolgt seid! Ich bin sicher, einige von euch kennen mich bereits, aber nur für den Fall, mein Name ist Diavel, und ich sehe mich selbst gerne als jemanden, der einen Ritter!“

Diejenigen, die dem Brunnen am nächsten standen, begannen zu johlen und zu pfeifen, und jemand rief: „Du wolltest wohl sagen, dass du einen 'Helden' spielst!“

In Sword Art Online gab es keine offiziellen Charakterklassen. Jeder Spieler hatte eine bestimmte Anzahl von Skill-Slots und konnte frei wählen, welche Skills er ausrüsten und weiterentwickeln wollte. Spieler, die sich zum Beispiel auf Crafting- oder Handels-Skills konzentrierten, wurden vielleicht als Schmied, Schneider oder Koch bezeichnet…aber ich hatte noch nie gehört, dass jemand als Ritter oder Held bezeichnet wurde.

Andererseits, wenn jemand unter einem solchen Titel bekannt sein wollte, war das sein Vorrecht. Diavel trug bronzene Rüstung an Brust, Schultern, Armen und Schienbeinen, dazu ein Langschwert an der Hüfte und einen Normannenschild auf dem Rücken. Alles zusammen, ergab es sicherlich ein authentisches Ritter-Outfit.

Als ich seine stolze Zurschaustellung aus der hinteren Reihe beobachtete, erinnerte ich mich an etwas. Die Ausrüstung und die Haare waren anders, also war es schwer zu sagen, aber ich hätte schwören können, dass ich dieses Gesicht schon ein paar Mal in den Städten auf der 1. Ebene gesehen hatte. Vielleicht vorher? Im anderen Aincrad? Ich konnte mich nicht an diesen Namen erinnern…

„Nun, ihr gehört alle zu den Topspielern im Spiel, aktiv an der vordersten Frontlinie unseres Fortschritts, und ich muss euch wohl kaum daran erinnern, warum wir hier sind“, ging Diavels Rede weiter. Ich hörte auf zu versuchen, mich zu erinnern und konzentrierte mich auf seine Worte. Der blauhaarige Ritter hob eine Hand und zeigte zu dem massiven Turm – dem Labyrinth der 1. Ebene – außerhalb der Dorfgrenzen.

„Heute hat unsere Party das Treppenhaus entdeckt, das in die oberste Etage des Turms führt. Das bedeutet, dass wir entweder morgen oder übermorgen endlich...die Bosskammer der 1. Ebene erreichen werden!“

Die Menge war erregt. Auch ich war überrascht. Das Labyrinth der 1. Ebene war ein Turm mit zwanzig Etagen, und ich (und die Fechterin) waren heute gerade mal am Anfang der neunzehnten Etage gewesen. Ich hatte keine Ahnung, dass andere schon so viel von dieser Etage kartographiert hatten.

„Ein Monat. Es hat einen ganzen Monat gedauert...aber wir müssen weiter als gutes Beispiel vorangehen. Wir müssen den Boss besiegen, die zweite Ebene erreichen und allen in der Stadt der Anfänge zeigen, dass wir eines Tages dieses Spiel des Todes besiegen können. Das ist die Pflicht aller Top-Level-Spieler hier! Ist es nicht so?“

Ein weiterer Jubel erhob sich. Jetzt waren es nicht nur Diavels Freunde, sondern auch andere in der Menge, die applaudierten. Was er sagte, war edel und ohne Tadel. In der Tat…wer darin Fehler suchte, war verrückt. Ich entschied, dass der Ritter, der aufgestanden war und die Rolle, die verstreuten Spieler an der Front zu vereinen, übernommen hatte, einen Applaus von mir verdiente, als–

„Wart‘ ma‘ kurz, Herr Ritter“, sagte die Stimme gelassen.

Die Jubelrufe verstummten und die Menge trat zur Seite. In der Mitte der offenen Fläche stand ein kleiner, aber kräftiger Mann. Alles, was ich von meiner Position aus sehen konnte, war ein großes Schwert und stacheliges braunes Haar, das das Bild eines Kaktus heraufbeschwor.

Der Kaktus machte einen Schritt nach vorne und knurrte in einem rauen Ton, der so gar nicht zu Diavels sanfter Stimme passte: „Ich muss erstma‘ was loswerden, bevor wir Freunde spielen können.“

Diavel zuckte bei dieser plötzlichen Unterbrechung nicht einmal mit der Wimper. Er begrüßte den untersetzten Mann mit einem zuversichtlichen Lächeln. „Was hast du auf dem Herzen, mein Freund? Ich bin offen für Meinungen. Wenn Sie deine allerdings vortragen willst, würde ich dich zuerst bitten, dich vorzustellen.“

„…Hmpf.“

Der kaktusköpfige Mann schnaubte, ging ein paar Schritte vorwärts, bis er direkt vor dem Brunnen stand, und wandte sich dann an die Menge. „Mein Name is‘ Kibaou.“

Der stachelhaarige Schwertkämpfer mit dem grimmigen Namen starrte die Versammlung mit kleinen, aber stechenden Augen an. Als sie zur Seite schwenkten, hatte ich den flüchtigen Eindruck, dass sie einen Moment lang auf meinem Gesicht stehen blieben. Aber ich hatte seinen Namen noch nie gehört und konnte mich nicht erinnern, ihm schon einmal begegnet zu sein. Nach seiner langen Begutachtung der Versammlung knurrte Kibaou erneut.

„Es müssen fünf bis zehn Leute unter uns sein, die sich erstma‘ entschuldigen müssen.“

„Entschuldigen? Bei wem?“

Der Ritter Diavel, der immer noch auf dem Rand des Brunnens hinter ihm stand, gestikulierte stattlich mit beiden Händen. Kibaou spuckte wütend aus und machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. „Hah! Ist das nich‘ offensichtlich? Bei den zweitausend Menschen, die schon gestorben sind. Zweitausend Menschen sind gestorben, weil sie alles für sich beansprucht haben! Stimmt doch?!“

Die murmelnde Menge von etwa vierzig Leuten wurde plötzlich totenstill. Sie hatten endlich verstanden, was Kibaou versuchte zu sagen. Ich verstand es auch.

Das einzige Geräusch, das durch die drückende Stille drang, waren die entfernten Klänge der NPC-Musiker, die die abendliche BGM spielten. Keiner sagte ein Wort. Jeder schien zu denken, dass wenn er etwas sagte, er als einer von ihnen gebrandmarkt werden würde. Es war sicherlich jene Angst, die mich in diesem Moment umschlang.

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„Herr Kibaou, wenn du ‚sie‘ sagst, nehme ich an, dass du…die ehemaligen Betatester meinst?“, fragte Diavel mit verschränkten Armen und ernstem Gesichtsausdruck.

„Das liegt doch auffer‘ Hand“, sagte Kibaou mit einem Blick auf den Ritter hinter ihm. Der dicke, mit einem Lederriemen vernähte Schuppenpanzer klirrte, als er sich umdrehte. „An dem Tag, an dem dieses gottverdammte Spiel anfing, haben die ganzen Betatester sich direkt ausm’ Staub gemacht und haben die Stadt der Anfänge verlassen. Sie haben neuntausend Leute zurückgelassen, die nicht wussten, wo rechts und links ist. Sie haben die besten Jagdgebiete und lukrativsten Quests monopolisiert, um sich hochzuleveln, und scherten sich einen Scheißdreck um all die andren. Ich weiß, dass hier ein, zwei von ihn‘ stehn‘, die denken, sie könnten an der Boss-Action teilhaben, ohne dass es jemand merkt. Wenn sie nicht auf die Knie gehen, sich entschuldigen und ihre gehorteten Col und Items für den Kampf gegen den Boss spenden, werde ich mein Leben nich‘ in ihre Hände legen, das sag‘ ich!“

Genau wie das „Kiba“ in seinem Namen – das Wort für Reißzähne – vermuten ließ, endete er seine Rede mit einem Knurren gefletschter Zähne. Es überraschte nicht, dass niemand etwas sagte. Ich, selbst ein ehemaliger Tester, biss die Zähne zusammen, hielt den Atem an und gab keinen Ton von mir.

Es war nicht so, als wollte ich nicht zurückschreien und fragen, ob er dachte, dass keiner der Betatester gestorben war. Eine Woche zuvor hatte ich eine Information von Argo gekauft– eigentlich ließ ich sie eher etwas für mich nachforschen. Ich wollte eine Gesamtzahl von toten Betatestern.

Die geschlossene Beta von SAO, die über die Sommerferien gelaufen war, hatte nur eintausend offene Slots gehabt. Jedes Mitglied bekam außerdem exklusive Erstrechte, für den Kauf der offiziellen physischen Edition, wenn sie veröffentlicht wurde. Basierend auf der Anzahl der eingeloggten Spieler am Ende der Beta, vermutete ich, dass nicht alle Leute bei Release weiterspielen würden. Es würden wahrscheinlich sieben- oder achthundert sein – das war meine Schätzung für die Gesamtzahl der anwesenden Betatester, zu Beginn des Todesspiels.

Herauszufinden, wer ein Beta-Tester war, war der knifflige Teil. Wenn neben dem Farbcursor des Spielers ein β-Zeichen zu sehen wäre, würde das die Sache sofort klären, aber (zum Glück) war das nicht der Fall. Und auch das Aussehen spielte keine Rolle, denn als Gamemaster hatte Akihiko Kayaba dafür gesorgt, dass jeder Spieler nun nach seinem eigenen realen Erscheinungsbild modelliert wurde. Der einzige Anhaltspunkt war der Spielername, aber viele der Spieler könnten zwischen der Beta und der Vollversion ihren Namen geändert haben. Der Grund, warum Argo und ich uns als Betatester erkannten, hatte mit den Umständen unseres ersten Treffens zu tun, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.

Auf jeden Fall hätten Argos Nachforschungen unglaublich mühsam sein sollen. Trotzdem kam sie schon nach nur drei Tagen mit einer Zahl zurück.

Nach ihrer Schätzung lag die Gesamtzahl der Betatester, die nicht mehr am Leben waren, bei etwa dreihundert. Wäre diese Zahl korrekt, würde das bedeuten, dass siebzehnhundert der zweitausend Toten, neue Spieler waren. In Prozenten ausgedrückt bedeutete dies, dass die Sterberate neuer Spieler bei 18 Prozent lag – die Sterberate der Betatester aber, lag mehr bei etwa 40 Prozent.

Wissen und Erfahrung bedeuteten nicht immer Sicherheit. Manchmal konnten sie auch den eigenen Untergang bedeuten. Ich selbst wäre beinahe bei der allerersten Quest gestorben, der ich nach dem Beginn des Todesspiels folgte. Es gab aber auch äußere Faktoren. Das Terrain, die Items und die Monster waren im fertigen Spiel praktisch die gleichen wie in der Beta, aber winzige Unterschiede konnten auftauchen, so klein und tödlich wie eine Giftnadel…

„Darf ich sprechen?“

Eine satte Baritonstimme hallte über den abendlichen Platz. Ich blickte erschrocken auf und sah eine Silhouette, die vom linken Ende der versammelten Menge nach vorne trat.

Er war groß, weit über 1,80 m. Die Größe des Avatars sollte eigentlich keinen Einfluss auf die Stats haben, aber er ließ das zweihändige Kriegsbeil, welches er auf dem Rücken trug, leicht aussehen. Sein Gesicht sah genau so bedrohlich aus wie die Waffe. Seine Kopfhaut war komplett kahl und schokoladenbraun, aber die kantigen Gesichtszüge passten sehr gut zu seinem wagemutigen Blick. Er sah nicht wie ein Japaner aus – nach allem, was ich wusste, war er vielleicht von einer anderen Herkunft.

Als der kräftige Mann den Rand des Brunnens erreichte, drehte er sich um und verbeugte sich vor der vierzigköpfigen Menge, bevor er seine Aufmerksamkeit dem bedauernswert überragten Kibaou zuwandte.

„Mein Name ist Agil. Wenn ich das richtig verstanden habe, Kibaou, behauptest du, dass viele Neulinge gestorben sind, weil die ehemaligen Betatester ihnen nicht geholfen haben, und dass sie sich deshalb entschuldigen und Wiedergutmachung leisten sollten? Ist das richtig?“

„J…ja.“

Kibaou wurde kurz aus der Fassung gebracht, erholte sich aber schnell, stand aufrecht, und starrte den Axtkrieger Agil mit seinen funkelnden Augen an. „Wenn sie den ganzen Rest nicht im Stich gelassen hätten, wären zweitausend jetzt nich‘ tot! Und das waren nicht nur irgendwelche zufälligen Zweitausend, das waren die Besten der Besten aus andren MMOs, die wir verloren ham‘! Wenn diese Beta-Arschlöcher den Anstand gehabt hätten, ihren Loot und ihr Wissen zu teilen, hätten wir jetzt zehnmal so viele Leute hier... Und vielmehr wären wir jetzt schon auf der Zweiten oder Dritten Ebene!“

Dreihundert der Leute, denen du nachtrauerst, sind diese „Arschlöcher“, Idiot! Wollte ich rufen, unterdrückte den Impuls aber. Ich hatte nichts in der Hand, um diese Zahlen zu belegen, und, aus eigensüchtigen Gründen, wollte ich einfach nicht aus der Menge herausstechen. So viel war klar: Sich als ehemaliger Tester zu outen, konnte in meiner Situation nicht helfen.

Die vier- oder fünfhundert verbliebenen Tester versteckten sich unter den Spielern, die neu im Spiel waren. Was Level und Ausrüstung anging, unterschieden sie sich wahrscheinlich nicht von den anderen Topspielern. Aber wenn ich mich hinstellte und erklärte wer ich bin, würde das niemals die Spannungen zwischen den beiden Gruppen lösen, sondern wahrscheinlich nur in einer Hexenjagd enden. Das schlimmstmögliche Ergebnis wäre ein offener Kampf zwischen neuen Spielern und Testern unter den Frontspielern. Diesen Ausgang mussten wir um jeden Preis verhindern. Ob auf den Feldern oder in den Dungeons, die „Outdoor“-Bereiche von SAO waren PvP-Gebiete, es gab freie Bahn für Angriffe auf andere Spieler.

„Das behauptest du, Kibaou. Zwar kann ich das mit der Beute nicht abstreiten, die Informationen allerdings, haben wir definitiv bekommen“, sprach Agil in seinem satten Bariton, während ich traurig den Kopf hängen ließ. Er griff in die Tasche am Bund der Lederrüstung, seine stählernen Muskeln präsentierend, und holte ein kleines Buch aus gebundenen Pergamentblättern hervor. Auf dem Einband war ein simples Rattenbild mit runden Ohren und drei Schnurrhaaren an jeder Seite abgebildet.

„Du hast auch eines dieser Guidebücher bekommen, nicht wahr? Sie wurden kostenlos in den Itemshops in Horunka und Medai angeboten.“

„Ko-kostenlos?“, murmelte ich. Wie das Symbol auf dem Umschlag andeutete, war es ein Guide für die Umgebung, den Argo die Ratte an andere Spieler verkaufte. Er enthielt detaillierte Karten und Listen von Monstern, deren Item-Drops und sogar Quest-Informationen. Der große Text auf der unteren Hälfte des Covers, der besagte „Mach dir keine Sorgen, dies ist Argos Reiseführer“, war keinesfalls nur ein dreister Werbespruch. Zugegeben, ich hatte mir die ganze Sammlung selbst gekauft, um mein Gedächtnis aufzufrischen – aber soweit ich mich erinnerte, hatten sie den stolzen Preis von fünfhundert Col pro Buch gekostet...

„Ich habe auch eins bekommen“, flüsterte die bis dahin stille Fechterin. Als ich fragte, ob es kostenlos war, nickte sie. „Der Item Shop hat es im Auftrag von jemandem angeboten, der Preis war mit null Col angegeben, also hat jeder eins genommen. Es war wirklich hilfreich.“

„Aber...was zur Hölle...?“

Die Ratte - eine durchtriebene Händlerin, die ihre eigenen Statusnummern für den richtigen Preis verkaufen würde – verschenkte Informationen umsonst? Das war undenkbar! Ich warf einen Blick zurück zu der Steinmauer, wo sie vor Minuten noch gesessen hatte, doch niemand war zu sehen. Ich machte eine Gedankennotiz, sie nach dem Grund zu fragen, wenn ich sie das nächste Mal sah, dann überlegte ich es mir anders, als ich ihre Stimme in meinem Kopf hörte: „Das kostet dich einen Tausender, kapiert?“

„Ja, ich hab‘ eins. Na und?“, knurrte Kibaou und holte mich in die Gegenwart zurück. Agil steckte den Strategie-Guide zurück in seine Tasche und verschränkte die Arme.

„Jedes Mal, wenn ich eine neue Stadt oder ein neues Dorf erreicht habe, gab es immer eines dieser Bücher im Item-Shop. Bei dir auch, oder? Kommt es dir nicht etwas komisch vor, dass die Informationen so schnell bereits verarbeitet und bereitgestellt wurden?“

„Was solln‘ das heißen, zu schnell?“

„Was ich meine ist, dass die einzigen Leute, die dem Informanten diese Informationen und Mapdaten hätten geben können, die ehemaligen Betatester sind.“

Die Menge regte sich. Kibaou schloss den Mund, und der Ritter Diavel nickte zustimmend. Agil blickte wieder in die Gruppe und sprach in seinem lauten Bariton. „Hört zu, die Informationen waren vorhanden. Und trotzdem sind Menschen gestorben. Ich denke, es liegt gerade daran, dass sie erfahrene MMO-Spieler waren. Sie gingen davon aus, dass SAO nach den gleichen Prinzipien und Standards wie andere Titel funktioniert, und haben es nicht geschafft aufzuhören, wenn es nötig war. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um irgendjemandem die Schuld dafür zu geben. Wie es scheint, wird dieses Treffen darüber entscheiden, ob uns das gleiche Schicksal widerfährt oder nicht.“

Der Ton von Agil, dem Axtkrieger, war dreist, aber fundiert, und sein Argument war so stichhaltig, dass Kibaou keine unmittelbare Erwiderung hatte. Wenn jemand anderes so wie Agil argumentiert hätte, hätte Kibaou ihn wahrscheinlich beschuldigt, selbst ein Betatester zu sein, aber in diesem Fall konnte er den großen Mann nur feindselig anstarren.

Hinter den beiden schweigenden Debattierenden, am Rande des Brunnens stehend, mit seinem langen wallenden Haar, das im Licht der untergehenden Sonne fast violett leuchtete, nickte Diavel großmütig.

„Dein Anliegen ist gut vorgetragen, Kibaou. Ich selbst wäre auch mehrmals fast gestorben, wegen meiner Unwissenheit gegenüber den Gefahren der Wildnis. Aber wie Agil sagt, ist es nicht an der Zeit, nach vorne zu schauen? Wenn wir den Boss dieser Ebenen besiegen wollen, brauchen wir auch die ehemaligen Tester...nein, wir brauchen vor allem die ehemaligen Tester. Wenn wir sie ausschließen und dafür komplett ausgelöscht werden, war es das ganze Theater dann wert?“

Es war eine packende Rede, eines edlen Ritters mehr als würdig. Viele in der Menge nickten zustimmend. Als die Stimmung in Richtung Vergebung für die Tester zu kippen schien, seufzte ich erleichtert auf, nicht ohne eine gewisse Menge Scham zu verspüren. Diavel fuhr fort.

„Ich bin mir sicher, dass ihr alle eure eigenen Gedanken zu dem Thema habt, aber fürs Erste hätte ich gerne, dass ihr alle dabei helft, die 1. Ebene zu clearen. Wenn ihr den Gedanken, an der Seite von Betatestern zu kämpfen, einfach nicht ertragen könnt, werden wir euch vermissen, denn ich werde niemanden zur Teilnahme zwingen. Teamwork ist der wichtigste Teil eines jeden Raids.“

Sein Blick schweifte langsam über die Menge, bis er auf Kibaou stehen blieb. Der kaktusköpfige Schwertkämpfer hielt dem Blick einige lange Momente stand, dann schnaubte er laut und knurrte: „Gut...ich werde vorerst mitspielen. Aber wenn der Bosskampf vorbei ist, werden wir das ein für alle Mal klären.“

Er drehte sich Schuppenpanzer klappernd um und ging zurück in die erste Reihe der Menge. Agil breitete die Hände aus, um zu signalisieren, dass er nichts weiter zu sagen hatte, und kehrte auf seinen Platz zurück.

Im Endeffekt war diese Szene der Höhepunkt des Treffens. Wir hatten gerade erst die Etage erreicht, in der sich die Kreatur befand, und entsprechend wenig detaillierte Planung für den Kampf konnte gemacht werden. Wie soll man einen Kampf gegen einen Boss planen, wenn ihn noch nicht einmal jemand gesehen hatte?

Naja, das stimmte nicht ganz. Ich wusste, dass der Boss der 1. Ebene ein riesiger Kobold war, dass er einen gewaltigen Talwar schwang und dass er von einem Gefolge von etwa zwölf schwer gepanzerten Kobolden begleitet wurde.

Wenn ich verriete, dass ich ein ehemaliger Betatester war und mein Wissen über den Boss anbieten würde, könnten unsere Erfolgschancen steigen. Aber wenn ich das tat, würde man fragen, warum ich das nicht schon vorher gesagt hatte, und die unterschwellige Wut gegen die Tester könnte wieder aufkommen.

Außerdem kannte ich nur die vorherige Inkarnation von Aincrad, und es gab immer die Möglichkeit, dass die Release-Version von SAO einen überarbeiteten oder neu gebalanceten Boss hatte. Wenn wir uns einen Plan basierend auf den Beta-Informationen ausdenken und in den Raum stürmen würden, nur um festzustellen, dass er ein anderes Design und Angriffsmuster hatte, würde die resultierende Verwirrung den Untergang des Raids bedeuten. Letzten Endes konnten wir nicht anfangen zu planen, bis jemand die Tür zur Bosskammer öffnen und ihn zum Erscheinen bringen würde.

Das war die Ausrede, die ich mir einredete, um mein Schweigen zu rechtfertigen.

Am Ende des Treffens stimmte Diavel einen optimistischen Jubel an und brachte den Rest der Versammlung dazu, zustimmend mitzuschreien. Auch ich reckte aus Verbundenheit eine Faust in die Luft, die Fechterin neben mir aber, zog nicht einmal ihre Hände aus dem Umhang, geschweige denn stimmte sie in den Jubel ein. Noch bevor die Aufforderung „Wegtreten!“ ertönte, wendete sie sich, um zu gehen. Bevor sie ging, sprach sie in einem Flüsterton, den nur ich hören konnte.

„Was auch immer du vor dem Treffen sagen wolltest...Sag es mir, wenn wir beide den Kampf überleben.“

Als sie in einer dunklen Gasse verschwand, antwortete ich leise.

Ja, ich werde es dir sagen. Ich werde dir erzählen, wie ich alles andere hinter mir gelassen habe, um mich selbst am Leben zu halten. Sword Art Online: Progressive/Volume 1/Arie einer sternenlosen Nacht/Kapitel 6 Sword Art Online: Progressive/Volume 1/Arie einer sternenlosen Nacht/Kapitel 7 Sword Art Online: Progressive/Volume 1/Arie einer sternenlosen Nacht/Kapitel 8