Sword Art Online: Progressive/Volume 1/Arie einer sternenlosen Nacht/Kapitel 5

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Kapitel 5[edit]

VIERUNDVIERZIG.

Das war die Zahl der Spieler, die sich in Tolbana um den Brunnen herum zusammenfanden.

Ich musste zugeben, dass das weit unter meinen Erwartungen – meinen Hoffnungen – lag. Eine offizielle Party in SAO konnte aus bis zu sechs Spielern bestehen, und eine Schar von acht davon, also insgesamt achtundvierzig Leute, war eine vollständige Raid-Party. Meine Erfahrungen aus dem Betatest hatten gezeigt, dass man einen Ebenen-Boss am besten mit zwei Raid-Parties ohne Verluste bewältigen konnte, aber es reichte nicht einmal für eine.

Ich atmete tief ein, hielt den Seufzer aber zurück, als eine Stimme von hinten kam.

„Es sind…so viele…“

Es war die Fechterin mit dem Kapuzenumhang. Ich drehte mich um und schoss zurück: „Viele…? Du nennst das viele?“

„Ja. Ich meine, sie sind alle hier, für den ersten Versuch, gegen das Bossmonster dieser Ebene anzutreten, richtig? Obwohl sie wissen, dass sie dabei alle sterben könnten…“

„…Ich verstehe.“

Ich nickte und sah mir die kleinen Gruppen von Kämpfern an, die sich auf dem Platz versammelt hatten.

Es gab fünf oder sechs Spieler, die ich vom Namen her kannte, und weitere fünfzehn oder so waren bekannte Gesichter, denen ich an der Front begegnet war. Die restlichen etwa zwanzig waren mir alle unbekannt. Natürlich war das Geschlechterverhältnis extrem unausgeglichen. Soweit ich erkennen konnte, war die Fechterin die einzige Frau in der Gruppe, aber da sie ihre Kapuze tief übers Gesicht gezogen hatte, war das nicht offensichtlich, und ich war mir sicher, dass jeder andere Beobachter zum Schluss kommen würde, es seien alles Männer. Auf der anderen Seite des Platzes hockte Argo die Ratte auf einer hohen Mauer, aber sie würde sich nicht am Kampf beteiligen.

Die Fechterin hatte Recht – sie alle würden dem Boss der 1. Ebene gegenüberstehen, einem Feind, den niemand zuvor gesehen hatte, zumindest nicht im Release-Aincrad. Von allen Kämpfen, die man auf der 1. Ebene bestreiten konnte, würde dieser das höchste Todesrisiko bergen. Das bedeutete, dass jeder dieser Spieler auf die Möglichkeit zu sterben, und als Trittstein für diejenigen zu dienen, die nach ihm kamen vorbereitet war. Allerdings…

„Ich…bin mir nicht so sicher“, murmelte ich. Sie wandte sich wieder zu mir, ihre Augen in der Kapuze zweifelnd blitzend. Ich wählte meine Worte weise.

„Natürlich muss es nicht auf jeden zutreffen, aber ich denke, dass eine ganze Reihe von ihnen es nicht aus Selbstlosigkeit tut, sondern weil sie einfach nicht im Staub zurückgelassen werden will. Wenn überhaupt, bin ich wohl selbst einer der Letzteren.“

„Im Staub zurückgelassen? Von wem?“

„Von der Front. Der Gedanke zu Sterben ist beängstigend, aber auch die Vorstellung, dass der Boss ohne dich besiegt wird.“

Die Kapuze aus Stoff senkte sich leicht. Ich nahm an, dass sie als völlige Anfängerin in MMOs nicht verstehen würde, was ich meinte. Aber da lag ich falsch.

„Ist das die gleiche Art von Motivation…wie wenn man nicht unter die besten zehn der Klasse fallen will, oder wenn man über dem siebzigsten Perzentil bleiben will, oder so was in der Art?“

„…“

Jetzt war es an mir, die Stimme zu verlieren. Letztendlich stimmte ich zu. „Ja…ähm…ich denke schon…“

Die wohlgeformten Lippen, die durch die Kapuze sichtbar waren, verzogen sich zu einem winzigen Lächeln, und ich hörte sie leise nach Luft schnappen. War sie…am Lachen? Die Besitzerin dieses ultrapräzisen Linears. Diejenige, die mir gesagt hatte, ich hätte mich nicht kümmern sollen, als ich sie aus dem Dungeon holte?

Ich war kurz davor, unhöflich unter die Kapuze zu starren, aber ich wurde von diesem Fauxpas durch das Geräusch von lautem Klatschen und einem Ruf, der über den Platz hallte, bewahrt.

„Alles klar, Leute! Es ist schon fünf Minuten nach, also lasst uns anfangen! Versammelt euch, Leute – ihr da, drei Schritte näher!“

Der Sprecher war ein Schwertkämpfer in einer schimmernden Metallrüstung. Er sprang leichtfüßig aus dem Stand auf den Rand des Brunnens in der Mitte des Platzes. Ein Sprung von solcher Höhe in schwerer Rüstung zeigte allen, dass er über ausgezeichnete Kraft und Beweglichkeit verfügte.

Einige in der etwa vierzigköpfigen Menge wurden unruhig, als er sich umschaute, um die Gruppe zu mustern. Und nicht ohne Grund – der Mann, der dort auf dem Rand des Brunnen stand, war so blendend hübsch, dass man sich wunderte, warum so jemand überhaupt ein VRMMO spielen sollte. Außerdem hatte er die gewellten Locken, die sein Gesicht umrahmten, in einem leuchtenden Blau gefärbt. Haarfärbemittel gab es nicht bei den NPC-Händlern der 1. Ebene zu kaufen, also musste er es als seltenen Drop von einem Monster bekommen haben.

Wenn er sich all diese Mühe gemacht hatte, nur um vor der Menge gut auszusehen, war er wahrscheinlich enttäuscht, dass es nur eine Frau in der Gruppe gab (und es war nicht einmal klar, dass sie eine war, aufgrund der Kapuze), aber der Mann setzte nur weiter ein schneidiges Lächeln auf, das signalisierte, dass er sich niemals zu einer solchen Denkweise herablassen würde.

„Danke, dass ihr heute alle meinem Ruf gefolgt seid! Ich bin sicher, einige von euch kennen mich bereits, aber nur für den Fall, mein Name ist Diavel, und ich sehe mich selbst gerne als jemanden, der einen Ritter!“

Diejenigen, die dem Brunnen am nächsten standen, begannen zu johlen und zu pfeifen, und jemand rief: „Du wolltest wohl sagen, dass du einen 'Helden' spielst!“

In Sword Art Online gab es keine offiziellen Charakterklassen. Jeder Spieler hatte eine bestimmte Anzahl von Skill-Slots und konnte frei wählen, welche Skills er ausrüsten und weiterentwickeln wollte. Spieler, die sich zum Beispiel auf Crafting- oder Handels-Skills konzentrierten, wurden vielleicht als Schmied, Schneider oder Koch bezeichnet…aber ich hatte noch nie gehört, dass jemand als Ritter oder Held bezeichnet wurde.

Andererseits, wenn jemand unter einem solchen Titel bekannt sein wollte, war das sein Vorrecht. Diavel trug bronzene Rüstung an Brust, Schultern, Armen und Schienbeinen, dazu ein Langschwert an der Hüfte und einen Normannenschild auf dem Rücken. Alles zusammen, ergab es sicherlich ein authentisches Ritter-Outfit.

Als ich seine stolze Zurschaustellung aus der hinteren Reihe beobachtete, erinnerte ich mich an etwas. Die Ausrüstung und die Haare waren anders, also war es schwer zu sagen, aber ich hätte schwören können, dass ich dieses Gesicht schon ein paar Mal in den Städten auf der 1. Ebene gesehen hatte. Vielleicht vorher? Im anderen Aincrad? Ich konnte mich nicht an diesen Namen erinnern…

„Nun, ihr gehört alle zu den Topspielern im Spiel, aktiv an der vordersten Frontlinie unseres Fortschritts, und ich muss euch wohl kaum daran erinnern, warum wir hier sind“, ging Diavels Rede weiter. Ich hörte auf zu versuchen, mich zu erinnern und konzentrierte mich auf seine Worte. Der blauhaarige Ritter hob eine Hand und zeigte zu dem massiven Turm – dem Labyrinth der 1. Ebene – außerhalb der Dorfgrenzen.

„Heute hat unsere Party das Treppenhaus entdeckt, das in die oberste Etage des Turms führt. Das bedeutet, dass wir entweder morgen oder übermorgen endlich...die Bosskammer der 1. Ebene erreichen werden!“

Die Menge war erregt. Auch ich war überrascht. Das Labyrinth der 1. Ebene war ein Turm mit zwanzig Etagen, und ich (und die Fechterin) waren heute gerade mal am Anfang der neunzehnten Etage gewesen. Ich hatte keine Ahnung, dass andere schon so viel von dieser Etage kartographiert hatten.

„Ein Monat. Es hat einen ganzen Monat gedauert...aber wir müssen weiter als gutes Beispiel vorangehen. Wir müssen den Boss besiegen, die zweite Ebene erreichen und allen in der Stadt der Anfänge zeigen, dass wir eines Tages dieses Spiel des Todes besiegen können. Das ist die Pflicht aller Top-Level-Spieler hier! Ist es nicht so?“

Ein weiterer Jubel erhob sich. Jetzt waren es nicht nur Diavels Freunde, sondern auch andere in der Menge, die applaudierten. Was er sagte, war edel und ohne Tadel. In der Tat…wer darin Fehler suchte, war verrückt. Ich entschied, dass der Ritter, der aufgestanden war und die Rolle, die verstreuten Spieler an der Front zu vereinen, übernommen hatte, einen Applaus von mir verdiente, als–

„Wart‘ ma‘ kurz, Herr Ritter“, sagte die Stimme gelassen.

Die Jubelrufe verstummten und die Menge trat zur Seite. In der Mitte der offenen Fläche stand ein kleiner, aber kräftiger Mann. Alles, was ich von meiner Position aus sehen konnte, war ein großes Schwert und stacheliges braunes Haar, das das Bild eines Kaktus heraufbeschwor.

Der Kaktus machte einen Schritt nach vorne und knurrte in einem rauen Ton, der so gar nicht zu Diavels sanfter Stimme passte: „Ich muss erstma‘ was loswerden, bevor wir Freunde spielen können.“

Diavel zuckte bei dieser plötzlichen Unterbrechung nicht einmal mit der Wimper. Er begrüßte den untersetzten Mann mit einem zuversichtlichen Lächeln. „Was hast du auf dem Herzen, mein Freund? Ich bin offen für Meinungen. Wenn Sie deine allerdings vortragen willst, würde ich dich zuerst bitten, dich vorzustellen.“

„…Hmpf.“

Der kaktusköpfige Mann schnaubte, ging ein paar Schritte vorwärts, bis er direkt vor dem Brunnen stand, und wandte sich dann an die Menge. „Mein Name is‘ Kibaou.“

Der stachelhaarige Schwertkämpfer mit dem grimmigen Namen starrte die Versammlung mit kleinen, aber stechenden Augen an. Als sie zur Seite schwenkten, hatte ich den flüchtigen Eindruck, dass sie einen Moment lang auf meinem Gesicht stehen blieben. Aber ich hatte seinen Namen noch nie gehört und konnte mich nicht erinnern, ihm schon einmal begegnet zu sein. Nach seiner langen Begutachtung der Versammlung knurrte Kibaou erneut.

„Es müssen fünf bis zehn Leute unter uns sein, die sich erstma‘ entschuldigen müssen.“

„Entschuldigen? Bei wem?“

Der Ritter Diavel, der immer noch auf dem Rand des Brunnens hinter ihm stand, gestikulierte stattlich mit beiden Händen. Kibaou spuckte wütend aus und machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. „Hah! Ist das nich‘ offensichtlich? Bei den zweitausend Menschen, die schon gestorben sind. Zweitausend Menschen sind gestorben, weil sie alles für sich beansprucht haben! Stimmt doch?!“

Die murmelnde Menge von etwa vierzig Leuten wurde plötzlich totenstill. Sie hatten endlich verstanden, was Kibaou versuchte zu sagen. Ich verstand es auch.

Das einzige Geräusch, das durch die drückende Stille drang, waren die entfernten Klänge der NPC-Musiker, die die abendliche BGM spielten. Keiner sagte ein Wort. Jeder schien zu denken, dass wenn er etwas sagte, er als einer von ihnen gebrandmarkt werden würde. Es war sicherlich jene Angst, die mich in diesem Moment umschlang.

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„Herr Kibaou, wenn du ‚sie‘ sagst, nehme ich an, dass du…die ehemaligen Betatester meinst?“, fragte Diavel mit verschränkten Armen und ernstem Gesichtsausdruck.

„Das liegt doch auffer‘ Hand“, sagte Kibaou mit einem Blick auf den Ritter hinter ihm. Der dicke, mit einem Lederriemen vernähte Schuppenpanzer klirrte, als er sich umdrehte. „An dem Tag, an dem dieses gottverdammte Spiel anfing, haben die ganzen Betatester sich direkt ausm’ Staub gemacht und haben die Stadt der Anfänge verlassen. Sie haben neuntausend Leute zurückgelassen, die nicht wussten, wo rechts und links ist. Sie haben die besten Jagdgebiete und lukrativsten Quests monopolisiert, um sich hochzuleveln, und scherten sich einen Scheißdreck um all die andren. Ich weiß, dass hier ein, zwei von ihn‘ stehn‘, die denken, sie könnten an der Boss-Action teilhaben, ohne dass es jemand merkt. Wenn sie nicht auf die Knie gehen, sich entschuldigen und ihre gehorteten Col und Items für den Kampf gegen den Boss spenden, werde ich mein Leben nich‘ in ihre Hände legen, das sag‘ ich!“

Genau wie das „Kiba“ in seinem Namen – das Wort für Reißzähne – vermuten ließ, endete er seine Rede mit einem Knurren gefletschter Zähne. Es überraschte nicht, dass niemand etwas sagte. Ich, selbst ein ehemaliger Tester, biss die Zähne zusammen, hielt den Atem an und gab keinen Ton von mir.

Es war nicht so, als wollte ich nicht zurückschreien und fragen, ob er dachte, dass keiner der Betatester gestorben war. Eine Woche zuvor hatte ich eine Information von Argo gekauft– eigentlich ließ ich sie eher etwas für mich nachforschen. Ich wollte eine Gesamtzahl von toten Betatestern.

Die geschlossene Beta von SAO, die über die Sommerferien gelaufen war, hatte nur eintausend offene Slots gehabt. Jedes Mitglied bekam außerdem exklusive Erstrechte, für den Kauf der offiziellen physischen Edition, wenn sie veröffentlicht wurde. Basierend auf der Anzahl der eingeloggten Spieler am Ende der Beta, vermutete ich, dass nicht alle Leute bei Release weiterspielen würden. Es würden wahrscheinlich sieben- oder achthundert sein – das war meine Schätzung für die Gesamtzahl der anwesenden Betatester, zu Beginn des Todesspiels.

Herauszufinden, wer ein Beta-Tester war, war der knifflige Teil. Wenn neben dem Farbcursor des Spielers ein β-Zeichen zu sehen wäre, würde das die Sache sofort klären, aber (zum Glück) war das nicht der Fall. Und auch das Aussehen spielte keine Rolle, denn als Gamemaster hatte Akihiko Kayaba dafür gesorgt, dass jeder Spieler nun nach seinem eigenen realen Erscheinungsbild modelliert wurde. Der einzige Anhaltspunkt war der Spielername, aber viele der Spieler könnten zwischen der Beta und der Vollversion ihren Namen geändert haben. Der Grund, warum Argo und ich uns als Betatester erkannten, hatte mit den Umständen unseres ersten Treffens zu tun, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.

Auf jeden Fall hätten Argos Nachforschungen unglaublich mühsam sein sollen. Trotzdem kam sie schon nach nur drei Tagen mit einer Zahl zurück.

Nach ihrer Schätzung lag die Gesamtzahl der Betatester, die nicht mehr am Leben waren, bei etwa dreihundert. Wäre diese Zahl korrekt, würde das bedeuten, dass siebzehnhundert der zweitausend Toten, neue Spieler waren. In Prozenten ausgedrückt bedeutete dies, dass die Sterberate neuer Spieler bei 18 Prozent lag – die Sterberate der Betatester aber, lag mehr bei etwa 40 Prozent.

Wissen und Erfahrung bedeuteten nicht immer Sicherheit. Manchmal konnten sie auch den eigenen Untergang bedeuten. Ich selbst wäre beinahe bei der allerersten Quest gestorben, der ich nach dem Beginn des Todesspiels folgte. Es gab aber auch äußere Faktoren. Das Terrain, die Items und die Monster waren im fertigen Spiel praktisch die gleichen wie in der Beta, aber winzige Unterschiede konnten auftauchen, so klein und tödlich wie eine Giftnadel…

„Darf ich sprechen?“

Eine satte Baritonstimme hallte über den abendlichen Platz. Ich blickte erschrocken auf und sah eine Silhouette, die vom linken Ende der versammelten Menge nach vorne trat.

Er war groß, weit über 1,80 m. Die Größe des Avatars sollte eigentlich keinen Einfluss auf die Stats haben, aber er ließ das zweihändige Kriegsbeil, welches er auf dem Rücken trug, leicht aussehen. Sein Gesicht sah genau so bedrohlich aus wie die Waffe. Seine Kopfhaut war komplett kahl und schokoladenbraun, aber die kantigen Gesichtszüge passten sehr gut zu seinem wagemutigen Blick. Er sah nicht wie ein Japaner aus – nach allem, was ich wusste, war er vielleicht von einer anderen Herkunft.

Als der kräftige Mann den Rand des Brunnens erreichte, drehte er sich um und verbeugte sich vor der vierzigköpfigen Menge, bevor er seine Aufmerksamkeit dem bedauernswert überragten Kibaou zuwandte.

„Mein Name ist Agil. Wenn ich das richtig verstanden habe, Kibaou, behauptest du, dass viele Neulinge gestorben sind, weil die ehemaligen Betatester ihnen nicht geholfen haben, und dass sie sich deshalb entschuldigen und Wiedergutmachung leisten sollten? Ist das richtig?“

„J…ja.“

Kibaou wurde kurz aus der Fassung gebracht, erholte sich aber schnell, stand aufrecht, und starrte den Axtkrieger Agil mit seinen funkelnden Augen an. „Wenn sie den ganzen Rest nicht im Stich gelassen hätten, wären zweitausend jetzt nich‘ tot! Und das waren nicht nur irgendwelche zufälligen Zweitausend, das waren die Besten der Besten aus andren MMOs, die wir verloren ham‘! Wenn diese Beta-Arschlöcher den Anstand gehabt hätten, ihren Loot und ihr Wissen zu teilen, hätten wir jetzt zehnmal so viele Leute hier... Und vielmehr wären wir jetzt schon auf der Zweiten oder Dritten Ebene!“

Dreihundert der Leute, denen du nachtrauerst, sind diese „Arschlöcher“, Idiot! Wollte ich rufen, unterdrückte den Impuls aber. Ich hatte nichts in der Hand, um diese Zahlen zu belegen, und, aus eigensüchtigen Gründen, wollte ich einfach nicht aus der Menge herausstechen. So viel war klar: Sich als ehemaliger Tester zu outen, konnte in meiner Situation nicht helfen.

Die vier- oder fünfhundert verbliebenen Tester versteckten sich unter den Spielern, die neu im Spiel waren. Was Level und Ausrüstung anging, unterschieden sie sich wahrscheinlich nicht von den anderen Topspielern. Aber wenn ich mich hinstellte und erklärte wer ich bin, würde das niemals die Spannungen zwischen den beiden Gruppen lösen, sondern wahrscheinlich nur in einer Hexenjagd enden. Das schlimmstmögliche Ergebnis wäre ein offener Kampf zwischen neuen Spielern und Testern unter den Frontspielern. Diesen Ausgang mussten wir um jeden Preis verhindern. Ob auf den Feldern oder in den Dungeons, die „Outdoor“-Bereiche von SAO waren PvP-Gebiete, es gab freie Bahn für Angriffe auf andere Spieler.

„Das behauptest du, Kibaou. Zwar kann ich das mit der Beute nicht abstreiten, die Informationen allerdings, haben wir definitiv bekommen“, sprach Agil in seinem satten Bariton, während ich traurig den Kopf hängen ließ. Er griff in die Tasche am Bund der Lederrüstung, seine stählernen Muskeln präsentierend, und holte ein kleines Buch aus gebundenen Pergamentblättern hervor. Auf dem Einband war ein simples Rattenbild mit runden Ohren und drei Schnurrhaaren an jeder Seite abgebildet.

„Du hast auch eines dieser Guidebücher bekommen, nicht wahr? Sie wurden kostenlos in den Itemshops in Horunka und Medai angeboten.“

„Ko-kostenlos?“, murmelte ich. Wie das Symbol auf dem Umschlag andeutete, war es ein Guide für die Umgebung, den Argo die Ratte an andere Spieler verkaufte. Er enthielt detaillierte Karten und Listen von Monstern, deren Item-Drops und sogar Quest-Informationen. Der große Text auf der unteren Hälfte des Covers, der besagte „Mach dir keine Sorgen, dies ist Argos Reiseführer“, war keinesfalls nur ein dreister Werbespruch. Zugegeben, ich hatte mir die ganze Sammlung selbst gekauft, um mein Gedächtnis aufzufrischen – aber soweit ich mich erinnerte, hatten sie den stolzen Preis von fünfhundert Col pro Buch gekostet...

„Ich habe auch eins bekommen“, flüsterte die bis dahin stille Fechterin. Als ich fragte, ob es kostenlos war, nickte sie. „Der Item Shop hat es im Auftrag von jemandem angeboten, der Preis war mit null Col angegeben, also hat jeder eins genommen. Es war wirklich hilfreich.“

„Aber...was zur Hölle...?“

Die Ratte - eine durchtriebene Händlerin, die ihre eigenen Statusnummern für den richtigen Preis verkaufen würde – verschenkte Informationen umsonst? Das war undenkbar! Ich warf einen Blick zurück zu der Steinmauer, wo sie vor Minuten noch gesessen hatte, doch niemand war zu sehen. Ich machte eine Gedankennotiz, sie nach dem Grund zu fragen, wenn ich sie das nächste Mal sah, dann überlegte ich es mir anders, als ich ihre Stimme in meinem Kopf hörte: „Das kostet dich einen Tausender, kapiert?“

„Ja, ich hab‘ eins. Na und?“, knurrte Kibaou und holte mich in die Gegenwart zurück. Agil steckte den Strategie-Guide zurück in seine Tasche und verschränkte die Arme.

„Jedes Mal, wenn ich eine neue Stadt oder ein neues Dorf erreicht habe, gab es immer eines dieser Bücher im Item-Shop. Bei dir auch, oder? Kommt es dir nicht etwas komisch vor, dass die Informationen so schnell bereits verarbeitet und bereitgestellt wurden?“

„Was solln‘ das heißen, zu schnell?“

„Was ich meine ist, dass die einzigen Leute, die dem Informanten diese Informationen und Mapdaten hätten geben können, die ehemaligen Betatester sind.“

Die Menge regte sich. Kibaou schloss den Mund, und der Ritter Diavel nickte zustimmend. Agil blickte wieder in die Gruppe und sprach in seinem lauten Bariton. „Hört zu, die Informationen waren vorhanden. Und trotzdem sind Menschen gestorben. Ich denke, es liegt gerade daran, dass sie erfahrene MMO-Spieler waren. Sie gingen davon aus, dass SAO nach den gleichen Prinzipien und Standards wie andere Titel funktioniert, und haben es nicht geschafft aufzuhören, wenn es nötig war. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um irgendjemandem die Schuld dafür zu geben. Wie es scheint, wird dieses Treffen darüber entscheiden, ob uns das gleiche Schicksal widerfährt oder nicht.“

Der Ton von Agil, dem Axtkrieger, war dreist, aber fundiert, und sein Argument war so stichhaltig, dass Kibaou keine unmittelbare Erwiderung hatte. Wenn jemand anderes so wie Agil argumentiert hätte, hätte Kibaou ihn wahrscheinlich beschuldigt, selbst ein Betatester zu sein, aber in diesem Fall konnte er den großen Mann nur feindselig anstarren.

Hinter den beiden schweigenden Debattierenden, am Rande des Brunnens stehend, mit seinem langen wallenden Haar, das im Licht der untergehenden Sonne fast violett leuchtete, nickte Diavel großmütig.

„Dein Anliegen ist gut vorgetragen, Kibaou. Ich selbst wäre auch mehrmals fast gestorben, wegen meiner Unwissenheit gegenüber den Gefahren der Wildnis. Aber wie Agil sagt, ist es nicht an der Zeit, nach vorne zu schauen? Wenn wir den Boss dieser Ebenen besiegen wollen, brauchen wir auch die ehemaligen Tester...nein, wir brauchen vor allem die ehemaligen Tester. Wenn wir sie ausschließen und dafür komplett ausgelöscht werden, war es das ganze Theater dann wert?“

Es war eine packende Rede, eines edlen Ritters mehr als würdig. Viele in der Menge nickten zustimmend. Als die Stimmung in Richtung Vergebung für die Tester zu kippen schien, seufzte ich erleichtert auf, nicht ohne eine gewisse Menge Scham zu verspüren. Diavel fuhr fort.

„Ich bin mir sicher, dass ihr alle eure eigenen Gedanken zu dem Thema habt, aber fürs Erste hätte ich gerne, dass ihr alle dabei helft, die 1. Ebene zu clearen. Wenn ihr den Gedanken, an der Seite von Betatestern zu kämpfen, einfach nicht ertragen könnt, werden wir euch vermissen, denn ich werde niemanden zur Teilnahme zwingen. Teamwork ist der wichtigste Teil eines jeden Raids.“

Sein Blick schweifte langsam über die Menge, bis er auf Kibaou stehen blieb. Der kaktusköpfige Schwertkämpfer hielt dem Blick einige lange Momente stand, dann schnaubte er laut und knurrte: „Gut...ich werde vorerst mitspielen. Aber wenn der Bosskampf vorbei ist, werden wir das ein für alle Mal klären.“

Er drehte sich Schuppenpanzer klappernd um und ging zurück in die erste Reihe der Menge. Agil breitete die Hände aus, um zu signalisieren, dass er nichts weiter zu sagen hatte, und kehrte auf seinen Platz zurück.

Im Endeffekt war diese Szene der Höhepunkt des Treffens. Wir hatten gerade erst die Etage erreicht, in der sich die Kreatur befand, und entsprechend wenig detaillierte Planung für den Kampf konnte gemacht werden. Wie soll man einen Kampf gegen einen Boss planen, wenn ihn noch nicht einmal jemand gesehen hatte?

Naja, das stimmte nicht ganz. Ich wusste, dass der Boss der 1. Ebene ein riesiger Kobold war, dass er einen gewaltigen Talwar schwang und dass er von einem Gefolge von etwa zwölf schwer gepanzerten Kobolden begleitet wurde.

Wenn ich verriete, dass ich ein ehemaliger Betatester war und mein Wissen über den Boss anbieten würde, könnten unsere Erfolgschancen steigen. Aber wenn ich das tat, würde man fragen, warum ich das nicht schon vorher gesagt hatte, und die unterschwellige Wut gegen die Tester könnte wieder aufkommen.

Außerdem kannte ich nur die vorherige Inkarnation von Aincrad, und es gab immer die Möglichkeit, dass die Release-Version von SAO einen überarbeiteten oder neu gebalanceten Boss hatte. Wenn wir uns einen Plan basierend auf den Beta-Informationen ausdenken und in den Raum stürmen würden, nur um festzustellen, dass er ein anderes Design und Angriffsmuster hatte, würde die resultierende Verwirrung den Untergang des Raids bedeuten. Letzten Endes konnten wir nicht anfangen zu planen, bis jemand die Tür zur Bosskammer öffnen und ihn zum Erscheinen bringen würde.

Das war die Ausrede, die ich mir einredete, um mein Schweigen zu rechtfertigen.

Am Ende des Treffens stimmte Diavel einen optimistischen Jubel an und brachte den Rest der Versammlung dazu, zustimmend mitzuschreien. Auch ich reckte aus Verbundenheit eine Faust in die Luft, die Fechterin neben mir aber, zog nicht einmal ihre Hände aus dem Umhang, geschweige denn stimmte sie in den Jubel ein. Noch bevor die Aufforderung „Wegtreten!“ ertönte, wendete sie sich, um zu gehen. Bevor sie ging, sprach sie in einem Flüsterton, den nur ich hören konnte.

„Was auch immer du vor dem Treffen sagen wolltest...Sag es mir, wenn wir beide den Kampf überleben.“

Als sie in einer dunklen Gasse verschwand, antwortete ich leise.

Ja, ich werde es dir sagen. Ich werde dir erzählen, wie ich alles andere hinter mir gelassen habe, um mich selbst am Leben zu halten.